Manchmal sind es die Leerstellen, die bereits eine unfreundliche Botschaft aussenden. »Mir fiel auf, dass der Jerusalemsverein im Berliner Missionswerk in seiner Selbstdarstellung und in den sozialen Medien den Namen Israel weitestgehend zu vermeiden sucht, aber keinerlei Probleme damit hat, ständig von Palästina zu sprechen, obwohl es sich dabei nicht einmal um einen Staat handelt«, sagt Sigmount Königsberg.
»Das mag vielleicht nur eine Frage der Semantik sein, aber meiner Einschätzung nach zeigt sich da bereits ein Problem«, erklärt der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Und genau dieses ist keinesfalls neu.
»Der Text transportiert die Art von Theologie, die wir eigentlich längst überwunden glaubten.«
Marion Gardei
So hatte erst vor wenigen Wochen der Jerusalemsverein einen »Weihnachtsaufruf aus Bethlehem 2020« auf seiner Internetseite verlinkt, der für reichlich Irritationen sorgte. Denn der Inhalt des frommen Pamphlets, verfasst von Kairos-Palestine, einem ökumenischen Netzwerk von christlichen Palästinensern, enthielt einige äußerst fragwürdige Formulierungen.
RÜCKFALL »Gott veranlasste drei nichtjüdische Weisen, einem Stern/Komet zu folgen, um Zeuge eines wundersamen Ereignisses zu werden, das den Lauf der Geschichte verändern würde«, schreibt darin unter anderem Yousef Alkhouri, Dozent für Biblische Studien am Bethlehem Bible College. »Während die alten Juden blind waren, die Zeichen des Himmels zu sehen und die Geburt ihres Königs zu erkennen, öffnete Gott den arabisch-nabatäischen Weisen die Augen.«
Juden als »blind« zu bezeichnen, weil sie die christliche Botschaft nicht akzeptieren würden, liest sich wie ein Rückfall in finstere, längst überwunden geglaubte Zeiten, als die pauschale Ablehnung des Judentums aus religiösen Motiven bei Katholiken und Protestanten noch zum Konsens gehörte.
»Der ›Weihnachtsaufruf aus Bethlehem 2020‹ transportiert genau die Art von Theologie, die wir eigentlich längst als überwunden glaubten«, lautet dazu die Einschätzung von Marion Gardei, seit Ende Januar Antisemitismusbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). »Wenn der Jerusalemsverein so etwas teilt, dann sehe ich das als hochproblematisch.«
POSITIONEN Der Grund: In dem Text vom Dezember wird mehrfach aus dem 2009 von Kairos-Palestine verfassten Schlüsseldokument »Ein Moment der Wahrheit« zitiert. »Darin wird behauptet, das Handeln des Staates Israel sei Sünde. Theologisch wird argumentiert, Jesus habe eine neue Lehre gebracht, die ein neues Licht auf die Themen des Alten Testaments wie Verheißung, Volk Gottes und das Land werfen würde. Damit werden die Zusagen Gottes an Israel, seine bleibende Erwählung, quasi als überholt eingestuft, die Kontinuität Jesu zu seinem Volk ignoriert. All das sind Positionen, gegen die wir uns als Kirche selbstverständlich zur Wehr setzen müssen«, betont Gardei.
Zwar hatte Hans-Jürgen Abromeit, Vorsitzender des Jerusalemsvereins und bis 2019 Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, erklärt, dass die kurzzeitige Verlinkung des Textes – nach einigen Protesten des Grünen-Politikers Volker Beck sowie anderer Personen war diese wieder entfernt worden – nicht automatisch eine Identifikation mit den Inhalten bedeuten würde. Aber Gardei sieht diesen Fall damit noch lange nicht als erledigt an. »Man ist sehr wohl dafür verantwortlich, was man verlinkt.«
MUSTERBEISPIEL Für Samuel Salzborn ist der »Weihnachtsaufruf aus Bethlehem 2020« gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. »Das Ganze liest sich wie das Musterbeispiel einer Argumentationsfigur, die vollständig auf doppelten Standards basiert«, so der Politologe und Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin. »Man äußert sich mit theologischer Autorität zu politischen Fragen und nimmt zugleich unter dem Deckmantel einer proklamierten Humanität völlig einseitig Partei.«
Sich dabei zugunsten der Palästinenser zu positionieren, ist in diesem Kontext nicht das eigentliche Problem. »Zentral ist, dass auf diese Weise politische Aussagen theologisiert werden und diejenigen, die sie tätigen, sich so vor jeglicher Kritik imprägnieren wollen«, meint Salzborn. Man inszeniere sich bei Widerspruch stets als verfolgte Unschuld, Vorwürfe werden sofort zurückgewiesen. »So verlaufen viele Diskussionen zum Thema Antisemitismus: Am Ende steht eine Nichtauseinandersetzung mit dem Phänomen.«
»Man inszeniert sich bei Widerspruch stets als verfolgte Unschuld.«
Samuel Salzborn
Sowohl Königsberg als auch Gardei und Salzborn attestieren dem Jerusalemsverein eine Schlagseite, weil Israel fast immer als alleiniger Verantwortlicher genannt wird, wenn die oftmals prekäre Situation von Christen in der Region zur Sprache kommt.
Die Tatsache, dass sie durch die Islamisierung der arabischen Gesellschaft vor Ort zunehmend in Bedrängnis geraten oder in Ländern wie dem Iran und dem Irak weitreichenden Repressalien ausgesetzt sind, wird aber schlichtweg ausgeblendet – so auch von Abromeit, der in der Vergangenheit gerne den Christen in Palästina seine Solidarität zum Ausdruck brachte: »Es ist tragisch, wenn Israel jetzt wieder Christen zum Verlassen des Landes bringt«, heißt es dann.
PRÜFSTEIN Auch bezieht er sich in seinen Argumentationen immer wieder auf dezidiert antizionistische israelische Historiker wie Ilan Pappe, der von einer »ethnischen Säuberung« schreibt, die Israel begangen habe. Zu der massiven Unterdrückung seiner Glaubensschwestern und -brüder beispielsweise im Gazastreifen, von denen heute dort nur noch einige Hundert leben, hört man aber so gut wie gar nichts von ihm.
»Dafür wirft er den Deutschen, wie 2019 auf der Konferenz der Deutschen Evangelischen Allianz geschehen, eine ›Überidentifikation mit Israel‹ vor«, ergänzt Königsberg. »Und jetzt agiert Abromeit so, als ob die Verlinkung des Weihnachtsaufrufs eine Panne gewesen sei. Ich entdecke dahinter eine volle Absicht, um jüdische Positionen generell zu diskreditieren.«
Gardei sieht deshalb großen Handlungsbedarf aufseiten des Jerusalemsvereins sowie dem Berliner Missionswerk, das zugleich seine Geschäftsstelle ist. »Ich wünsche mir vom Vorstand eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit dem, was da in der Vergangenheit alles geschehen ist und gesagt wurde.«
Zwar leistet der Jerusalemsverein vor allem wichtige Bildungsarbeit, doch nehme ihn das nicht aus der Verantwortung. »Diakonie ist immer auch politisch«, meint Gardei. Deswegen gehören die Strukturen und die durch das Personal vermittelten Inhalte ihrer Meinung nach durchaus auf den Prüfstein. Auch eine kritische Aufarbeitung der Historie des 1852 gegründeten Jerusalemsvereins würde sie sich sehr wünschen. »Israel hat für uns als evangelische Kirche einen guten Klang«, betont Gardei. »Das bezieht sich sowohl auf den real existierenden Staat, als auch auf Israel als spirituelle Größe, wie es in der Bibel beschrieben wird. Zudem gibt es gleichermaßen eine ganz besondere politische Verantwortung gegenüber Juden und Israel, die aus unserer Geschichte erwachsen ist.«
BOYKOTT-BEWEGUNG Wenn der Jerusalemsverein doch einmal Israelis zu Wort kommen lässt, dann sind es vorzugsweise solche wie Nirit Sommerfeld von der »Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost«, einer Initiative, die wiederum eng mit der Boykott-Bewegung verwoben ist. Und auch der »Weihnachtsaufruf aus Bethlehem 2020« beinhaltete zahlreiche Passagen aus »Ein Moment der Wahrheit«, in denen ebenfalls zum Boykott gegen Israel aufgerufen wird. Das sehen Königsberg, Gardei und Salzborn gleichermaßen als äußerst problematisch.
Die Evangelische Kirche in Deutschland ging bereits vor einem Jahr in einer Stellungnahme ihres Rates auf Distanz zur BDS-Bewegung und lehnte unter anderem eine Beteiligung an entsprechenden Projekten ab. Doch ganz so eindeutig wollte man sich dann doch nicht positionieren, schließlich ist man »auf verschiedene Weise – bis hin zu vertraglich geregelten Kirchengemeinschaften oder auf der Ebene der Kirchlichen Weltbünde – auch mit ökumenischen Partnern verbunden, die sich als Teil der BDS-Bewegung verstehen, einzelne Maßnahmen wie etwa einen Investitionsentzug umgesetzt haben oder BDS Maßnahmen unterstützen«.
»Der Vereinsvorsitzende wirft den Deutschen eine ›Überidentifikation mit Israel‹ vor.«
Sigmount Königsberg
Solche Uneindeutigkeiten öffnen dann Tür und Tor für BDS-nahe Positionen, und der Jerusalemsverein kann sich so durchaus auf sicherer Seite wähnen, wenn auf seiner Internetseite nicht nur problematische Weihnachtsaufrufe verlinkt werden, sondern gleich eine mehrere Seiten lange Erwiderung des deutschen Ablegers von Kairos-Palestine zu der EKD-Stellungnahme, der mit BDS völlig konform geht und den Boykott Israels für eine gute Sache hält.
Salzborn rät in diesem Zusammenhang den Verantwortlichen auf Kirchenseite, sich vielleicht einer Tradition zu besinnen, die ihre Ursprünge sogar in der Theologie hat. »Warum nicht auf die gute alte Hermeneutik zurückgreifen und Dokumente, die die Boykottbewegung produziert, einer genauen Analyse unterziehen? Wieso verlässt man sich nicht auf die eigenen methodologischen Kompetenzen, sondern neigt dazu, ständig äquidistante Positionen einzunehmen?« Die Debatte um den Jerusalemsverein und die Haltung seiner Führung zu Israel ist nach Meinung von Königsberg, Gardei und Salzborn daher noch lange nicht beendet.