Im Büro des preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring herrscht im Juli 1935 Empörung: Ein Kirchenmann habe angerufen und eine sofortige Unterredung mit Göring verlangt.
Ihm seien entsetzliche Vorkommnisse im Konzentrationslager Esterwegen zu Ohren gekommen. Es handelt sich um den kommissarischen Leiter des Bistums Berlin, den Vertreter des eben gestorbenen Bischofs, Bernhard Lichtenberg (1875–1943).
Detailliert schilderte dieser das in Esterwegen übliche Prügelritual – vor den versammelten Lagerinsassen 25 Schläge mit dem Ochsenziemer, die der Gefangene mitzählen musste – und die Behandlung der Juden: »Sie müssen meistens Jauche fahren, die Klosettgruben reinigen, und das teilweise mit den Händen.«
Kampf Lichtenberg bekommt den Bescheid, man wisse schon um die Missstände und werde sich um Abhilfe bemühen. Doch er lässt sich nicht so einfach abspeisen. Er legt seinen Bericht auf den Tisch und schreibt eigenhändig dazu: »Dem Preußischen Staatsministerium persönlich überreicht mit der Bitte um Nachprüfung und Remedur. Berlin, 18. VII. 1935. Lichtenberg, Domkapitular.« Von diesem Augenblick an steht Bernhard Lichtenberg auf der schwarzen Liste der Nazis.
Mit dem unentwegten Kampf gegen Widerstände war er groß geworden. Die Katholiken bildeten eine kleine Minderheit im niederschlesischen Ohlau, wo er 1875 zur Welt kam. Lichtenbergs Vater, ein Kaufmann, engagierte sich im »Kulturkampf« leidenschaftlich für die katholische Sache.
Soziale und gesellschaftspolitische Fragen interessierten auch seinen Sohn, als er in Prag, München und Innsbruck Theologie studierte. Später als Kaplan in Berlin belegte er drei Semester nationalökonomische Vorlesungen – zusätzlich zu den gewaltigen Aufgaben eines Großstadtseelsorgers.
besessen Lichtenberg muss ein besessener Seelsorger gewesen sein, unkonventionell, immer präsent. Exakt 2578 Predigten hat er verfasst, die er mit gewaltiger Stimme vortrug wie ein Shakespeare-Darsteller. Als ihm ein Eisenbahner bedauernd erklärte, er könne sonntags leider nicht zur Messe gehen, sein Dienst beginne zu früh, da richtete Lichtenberg einen zusätzlichen Gottesdienst um viertel vor fünf Uhr morgens ein.
Hitlers Mein Kampf hatte der streitbare Priester aufmerksam gelesen und mit kritischen Randbemerkungen versehen. Bei Propagandaveranstaltungen stieg er auf das Podium und wies die Hetze gegen Juden und Jesuiten sachlich aber entschlossen zurück.
Als der Friedensbund deutscher Katholiken, dem er angehörte, 1931 den Antikriegsfilm Im Westen nichts Neues nach dem Roman von Erich Maria Remarque zeigte, titelte der »Angriff«, ein von Joseph Goebbels herausgegebenes nationalsozialistisches Kampfblatt: »Viehische Totenschändung!!! Prälat Lichtenberg verhöhnt unsere Gefallenen!!!«
Pogrom Am 10. November 1938 – die Pogromnacht hatte zahllosen Juden Tod und Deportation gebracht, aus der Ruine der zerstörten Berliner Synagoge drang noch Rauch – stieg der inzwischen zum Dompropst ernannte Lichtenberg auf die Kanzel der Hedwigskathedrale.
»Ich dachte, mir blieb der Atem stehen«, erinnert sich eine Augenzeugin, getaufte Jüdin, als sie Lichtenberg mit ruhiger Stimme sagen hörte: »Ich bete für die Priester in den Konzentrationslagern, für die Juden, für die Nichtarier (...). Draußen brennt die Synagoge! Das ist auch ein Gotteshaus.«
Es bleibt ein Rätsel, dass der Dompropst dieses Abendgebet für die verfolgten Juden noch drei Jahre lang Tag für Tag unbehelligt wiederholen konnte. Offenbar haben die Mitbeter in der Kirche dichtgehalten. Auch das beim Bischöflichen Ordinariat eingerichtete Hilfswerk, das Juden Kleider- und Lebensmittelkarten beschaffte, etliche Deportationen verhinderte, manchen das Leben rettete, indem es sie als »Hausangestellte« nach England vermittelte, auch dieses Hilfswerk arbeitete mitten in Hitlers Regierungsviertel so gut getarnt, dass es nicht aufflog.
KZ Im September 1941 wurden zwei Studentinnen aus dem Rheinland zufällig Ohrenzeuginnen der gewohnten Fürbitte für die Juden. Empört denunzierten sie den Priester. Lichtenberg kam in Untersuchungshaft: Schikanen, Verhöhnung, Gewalt. Schließlich wurde der Häftling wegen »Kanzelmissbrauchs« zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Schwer herzkrank und gefährlich abgemagert, kam er im Oktober 1943 wieder in Freiheit – um von der Gestapo sofort in »Schutzhaft« genommen zu werden. Auf dem Weg ins KZ Dachau starb er völlig entkräftet am 5. November 1943 in der bayerischen Stadt Hof.
Im Jahr 1996 sprach der Papst ihn selig, im Jahr 2004 verlieh die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ihm den Ehrentitel »Gerechter unter den Völkern«. Lichtenbergs sterbliche Überreste sind in der Krypta von St. Hedwig in Berlin beigesetzt.