Deutschland hat am Dienstag kurzfristig seine Unterstützung für eine gemeinsame, von den USA vorgetragene und von zahlreichen europäischen Staaten mitgetragene Erklärung zurückgezogen, welche sich kritisch mit dem Mandat und der Arbeit der Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats zu Israel und den palästinensischen Gebieten auseinandersetzte. Die Erklärung der 27 Staaten wurde unter anderem von Albanien, Bulgarien, Großbritannien, Italien, Kanada, Kroatien, Nordmazedonien, Österreich, Polen, Rumänien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn mitunterzeichnet.
Auslöser für den plötzlichen Kurswechsel Berlins war die Ankündigung der israelischen Regierung am Sonntag, den Bau weiterer Häuser in Siedlungen im besetzten Westjordanland zu genehmigen. Aus dem Auswärtigen Amt verlautete, man habe die deutsche Unterstützung für ein »von den USA geführtes Statement im Menschenrechtsrat zurückgezogen, das Kritik an der zeitlich unbegrenzten und thematisch nicht eingegrenzten Mandatierung einer Untersuchungskommission zu Nahost (Commission of Inquiry, CoI) wiederholt«. Ein Grund dafür sei, dass Israel am 18. Juni weitreichende Beschlüsse zum Ausbau von Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten gefasst und die Planungsmodalitäten verändert habe.
HALTUNG Dieser Schritt sei auch Ausdruck der grundsätzlichen Haltung Deutschlands bei den Vereinten Nationen, rechtfertigte man sich im Außenamt. Zwar habe Berlin sich 2021 gegen die Schaffung der dreiköpfigen Kommission unter Vorsitz der ehemaligen UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, ausgesprochen, unter anderem, weil deren Mandat – wie bei anderen Gremien dieser Art – zeitlich nicht befristet ist. Man stelle das der Kommission vom UN-Menschenrechtsrat übertragene Mandat jedoch nicht grundsätzlich infrage, hieß es im Auswärtigen Amt. Zudem habe die Kommission in diesem Jahr einen »ausgewogeneren Bericht« als in den Vorjahren vorgelegt.
Dieser Einschätzung stimmten viele andere Staaten jedoch nicht zu. In dem Statement der 27, welches in der Sitzung des Genfer UN-Gremiums am Dienstag von US-Botschafterin Michèle Taylor vorgetragen wurde, heißt es: »Wir sind der Meinung, dass die Art dieser CoI ein weiterer Beweis für die seit Langem bestehende, unverhältnismäßige Aufmerksamkeit ist, die Israel im Rat zuteilwird und die beendet werden muss.« Man befürchte, so die Erklärung weiter, dass die Untersuchungskommission zur »Polarisierung einer Situation beitragen wird, über die so viele von uns besorgt sind«.
Eigentlich hatte auch Deutschland wiederholt Sorge über die Fokussierung zahlreicher UN-Gremien auf Israel ausgedrückt. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung 2021 hatte man nicht nur versprochen, Israels Sicherheit künftig als »Staatsräson« zu betrachten. Es hieß dort auch: »Wir machen uns stark gegen Versuche antisemitisch motivierter Verurteilungen Israels, auch in den VN (Vereinten Nationen).«
Im vergangenen Jahr hatte Deutschland sich noch einem ähnlichen Statement der USA und anderer Staaten angeschlossen. Dass wegen des israelischen Siedlungsbaus das Votum kurzfristig geändert wurde, ist ungewöhnlich – und darf als Rüffel an die Adresse der israelischen Regierung gewertet werden.
Zwar betonte man im Auswärtigen Amt nun, der Schritt ändere nichts an der »grundlegenden Solidarität der Bundesregierung mit Israel«. Er wirft trotzdem Zweifel auf - Zweifel, dass es Berlin wirklich ernst ist mit dem im Koalitionsvertrag angedeuteten israelfreundlicheren Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen.
ÄUSSERUNGEN Die dreiköpfige Pillay-Kommission, mit der Israels Regierung jegliche Zusammenarbeit verweigert, steht nicht nur wegen Voreingenommenheit in der Schusslinie. Eines ihrer Mitglieder, der Inder Miloon Kothari, machte im vergangenen Jahr mit antisemitischen Äußerungen Schlagzeilen. In einem Interview mit der Website »Mondoweiss« sprach Kothari davon, dass die sozialen Medien »größtenteils von der jüdischen Lobby oder bestimmten Nichtregierungsorganisationen kontrolliert werden«. Es werde, munkelte Kothari weiter, sehr viel Geld »in den Versuch gesteckt, uns zu diskreditieren. Aber das Wichtigste ist, dass unser Mandat auf internationalen Menschenrechten und humanitären Standards beruht und dass wir alle nach der Wahrheit suchen«. Deutschland und 17 weitere UN-Mitgliedsstaaten hatten die Äußerung damals scharf verurteilt. Navi Pillay hatte Kothari dagegen in Schutz genommen.
Auch der 81-jährigen Südafrikanerin selbst wird seit Langem eine dezidiert anti-israelische Haltung nachgesagt. Die Menschenrechtsorganisation UN Watch hatte Pillay, die von 2008 bis 2014 als UN-Hochkommissarin für Menschenrechte amtierte, vorgeworfen, Israel als »Apartheidstaat« bezeichnet zu haben. Pillay bestritt dies. Allerdings hatte sie im Juni vergangenen Jahres geäußert, ihre Kommission werde durchaus untersuchen, »ob Apartheid für die Menschen in Israel und Palästina von Belang ist«.
UN Watch-Geschäftsführer Hillel Neuer kritisierte Pillay heftig und sagte, sie habe in der Vergangenheit gleich mehrfach Petitionen unterzeichnet, in denen Israel das Apartheid-Label umgehängt worden sei. »Navi Pillay wurde berufen, um einen Schuldspruch gegen Israel zu erwirken und das Land mit dem Segen der UNO als Apartheidstaat zu bezeichnen«, so Neuer. Ihre Kommission sei ungefähr so unabhängig wie vor 500 Jahren die spanische Inquisition, wetterte er.
KRITIK In der Sitzung des Menschenrechtsrates sagte die CoI-Vorsitzende: »Die Untersuchung hat ergeben, dass die meisten Verletzungen (von Menschenrechten) als Teil der Absicht der israelischen Regierung begangen werden, ihre dauerhafte Besatzung fortzuführen.« Die Hauptleidtragenden dieser Politik seien die Palästinenser, so Pillay. Im Kommissionsbericht (es war bereits der zweite) taucht der Begriff »Apartheid« allerdings nur einmal auf, in Zusammenhang mit angeblichen Einschüchterungen israelischer Offizieller gegen Menschenrechtler, die ihn verwenden.
Das dritte Mitglied von Pillays Gremium, der Australier Chris Sidoti, behauptete in einer Pressekonferenz nach der Ratssitzung, kein einziges Land, das an der Aussprache teilgenommen habe, habe Kritik an dem 78-seitigen Bericht der Untersuchungskommission geäußert.
In der Aussprache hatte allerdings Israels UN-Botschafterin Meirav Eilon Shahar auf ihr Rederecht verzichtet. Auch Deutschland, immerhin eines der 48 Mitglieder des Gremiums, meldete sich nicht zu Wort. Stattdessen bekam die Pillay-Kommission Rückendeckung von Staaten wie Nordkorea, Syrien, Venezuela und Pakistan.
DIG-REAKTION Der iranische UN-Vertreter verstieg sich sogar zu der Behauptung, das Ausmaß »der von der Besatzungsmacht verübten Tötungen, Folterungen, Misshandlungen, Einschüchterungen, Misshandlungen und Schikanen gegen Menschenrechtsverteidiger und Journalisten zeigt deutlich, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit täglich als normales Instrument einer Apartheidregierung eingesetzt werden«.
Dass Deutschland aus Protest gegen die Siedlungspolitik der Netanjahu-Regierung dem üblichen Treiben in Genf teilnahmslos zusah, sorgt nicht nur in Jerusalem für Kopfschütteln. Auch der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, kritisierte das Auswärtige Amt. »Die Siedlungspolitik der aktuellen israelischen Regierung muss man kritisch sehen. Aber: Das rechtfertigt nicht die antiisraelische Kampagne in der UN«, schrieb Beck auf Twitter.
Er sei »persönlich enttäuscht«, so der ehemalige Bundestagsabgeordnete von Bündnis90/Die Grünen, dass Außenministerin Annalena Baerbock die Vereinbarungen des Koalitionsvertrages nicht umsetze. »Ich kann nicht verstehen, warum sich Deutschland nicht dem Statement der 27 Staaten gegen die Isolierung und Verteufelung Israels angeschlossen hat.«
Frank Müller-Rosentritt, Bundestagsabgeordneter für die FDP, äußerte sich ähnlich. Ebenfalls auf Twitter schrieb er: »Der UN-Menschenrechtsrat und seine Untersuchungskommission sind in unerträglicher Weise einseitig gegen Israel ausgerichtet. Deutschland muss klare Haltung gegen die notorische antiisraelische Tendenz der UNO zeigen, unabhängig von der Kritik an israelischer Regierungspolitik.«