Frau von Voss, Deutschland erlebt dieser Tage wieder offen zur Schau gestellten Antisemitismus. Welchen Anteil daran hat das Internet?
Die sozialen Medien sind nicht nur Brandbeschleuniger, sondern ein wesentlicher Motor des Hasses. Durch Algorithmen werden Hassbotschaften amplifiziert. Das Argument der Meinungsfreiheit zieht hier nicht, denn Hass ist keine Meinung. Besonders rechtsextreme Akteure haben eine klare Strategie, die Mehrheitsgesellschaft mit ihrer Ideologie zu infizieren. Es ist also fünf nach zwölf, was die Regulierung des Internets angeht.
Ihr Institut hat jüngst soziale Netzwerke auf antisemitische Postings hin untersucht. Was haben Sie herausgefunden?
Die Verbreitung von antisemitischem Hass geht seit Beginn der Corona-Pandemie durch die Decke. Alle Altersgruppen sind betroffen. Es werden auch Leute in den Strudel hineingezogen, die nicht zum politischen Rechtsextremismus gehören. Der Schutzwall gegenüber den Extremen erodiert spürbar. Und die Plattformbetreiber sind nicht glaubwürdig, sie tun viel zu wenig gegen den Judenhass.
Ist das nicht in erster Linie ein Problem bei Telegram?
Nein, wir sehen es auf allen sozialen Netzwerken, auch den großen. Allerdings fallen Messenger-Dienste wie Telegram bislang nicht unter die gesetzliche Regulierung, wie wir sie in Deutschland mit dem NetzDG kennen. Darüber hinaus löscht Telegram so gut wie nicht. Es gibt keinerlei Möglichkeit, sich Zugang zu diesen Daten zu verschaffen – noch nicht einmal für die Justiz. Es ist unfassbar, dass wir als Demokratie solche Wildwestszenarien zulassen.
Welche Rolle spielt antisemitische Hetze außerhalb Deutschlands?
Das ist ein globales Phänomen und verbreitet sich insbesondere durch Meme-Datenbanken wie ein Ölteppich. Oft als Witz getarnt, werden die Normen des Sagbaren verschoben. Hinzu kommt der Nexus von Verschwörungserzählungen und Judenhass. Grenzenlose Kommunikation birgt Chancen bei Reformthemen wie dem Klimaschutz, aber eben auch enorme Sicherheitsrisiken für Minderheiten.
Was kann man tun?
Neben der staatlichen Regulierung, die wichtig ist, gilt es auch, die wirtschaftliche Seite zu beachten. Unternehmen, die in sozialen Netzwerken Werbung schalten, sollten darauf achten, dass diese nicht neben extremen Inhalten platziert wird. Sie sollten ihre Werbebudgets abziehen, wenn Plattformen antisemitische Inhalte verbreiten. Das Geschäftsmodell Letzterer muss sich ändern. Wir brauchen mehr digitale Zivilcourage und Gegenrede und sollten ein digitales Stoppschild aufstellen, wenn uns Hass im Netz begegnet.
Das Interview mit der Geschäftsführerin des Deutschlandbüros des britischen Institute for Strategic Dialogue führte Michael Thaidigsmann.