Der Berliner Georg Prager war bis 1938 Inhaber einer kleinen Druckerei im Stadtteil Prenzlauer Berg. Nach dem Novemberpogrom war Prager drei Wochen im KZ Sachsenhausen inhaftiert und wurde dort zu harter Arbeit gezwungen. Durch glückliche Umstände konnte er danach mit seiner Frau Margarete und dem kleinen Sohn Lothar nach Shanghai flüchten und so der Schoa entkommen.
1946 gelang der jüdischen Familie ein Neuanfang im australischen Melbourne. Jüngst kehrte Lothar Prager nach Deutschland zurück und berichtete in der heutigen Gedenkstätte Sachsenhausen vom schwierigen Neuanfang der Familie in Südostasien und von den Erfahrungen im Exil.
AUSSTELLUNG Anlass war die Eröffnung der Ausstellung Im Reich der Nummern – wo die Männer keine Namen haben, die von den Menschen handelt, die während des Novemberpogroms inhaftiert wurden.
Lothar Prager war damals zu jung, um sich noch an die Flucht erinnern zu können – der heute 80-Jährige war im Januar 1939 ein Säugling. Pragers Beispiel verweist auf eine Herausforderung, mit der sich alle Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen bei der Erinnerung an die Schoa und der Vermittlung historischer Bildung in zunehmendem Maße konfrontiert sehen: Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die aus erster Hand von der Verfolgung im Nationalsozialismus berichten können.
Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die aus erster Hand von der Verfolgung im Nationalsozialismus berichten können.
»Für die gesamte Erinnerungskultur bedeutet es einen großen Einschnitt, wenn die Zeitzeugenschaft endet«, sagt Horst Seferens, Sprecher der Gedenkstätte Sachsenhausen. Wichtig sei es deshalb, in der Bildungsarbeit stets neue Konzepte zu entwickeln. Besonders audiovisuelle Zeugnisse stünden immer mehr im Vordergrund. Auch der Erhalt historischer Orte bleibe wichtig.
AUTHENTISCHE ORTE »Wenn die Zeitzeugen nicht mehr sprechen können, werden die authentischen Orte der Geschichte an Bedeutung gewinnen«, stimmt Kay-Uwe von Damaros zu. Er ist Sprecher der Stiftung Topographie des Terrors am ehemaligen Hauptquartier von SS und Gestapo in Berlin. »Wir merken das schon jetzt, denn auch im vergangenen Jahr sind wieder mehr Gäste gekommen, insgesamt circa 1,4 Millionen«, so Damaros.
»Die Frage, wie sich die Arbeit der Gedenkstätten nach dem Abschied von der Zeitgenossenschaft ändern wird, beschäftigt uns schon seit über 20 Jahren«, berichtet der Leiter der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, Jens-Christian Wagner, und fügt an: »Die Antwort ist so kurz wie lakonisch: In der Gedenkstättenarbeit wird sich nicht viel ändern, weil Begegnungen mit Zeitzeugen bereits seit mehreren Jahren im Alltag nur eine geringe Rolle spielen.«
Im Alltag spielten Zeitzeugen
nur eine geringe Rolle, meint Jens-Christian Wagner von der Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Hier, wie in fast allen deutschen KZ-Gedenkstätten, setzt man stark auf digitalisierte Audio- und Videointerviews mit Überlebenden, die unter pädagogischer Anleitung von Schulklassen und anderen Gruppen genutzt werden. »Ich denke auch, dass Gedenkstätten die Geschichten, die sie vermitteln wollen, nicht nur on-site, sondern auch on-line mitteilen sollten«, ergänzt Iris Groschek von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg.
INTERVIEWS Barbara Köster, Museumspädagogin bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, verweist auf das Videoarchiv »Sprechen trotz allem«. Die Stiftung stellt damit über 70 mehrstündige Interviews mit Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung im Internet bereit. Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, berichtet von weiteren neuen Formen, die in die pädagogische Arbeit integriert würden, beispielsweise Podcasts und Graphic Novels.
Wenn man mit Gedenkstättenmitarbeitern spricht, wird immer wieder auch, teils ehrfürchtig, von »den Hologrammen« erzählt. Es handelt sich dabei um eine experimentelle Technik, die von Steven Spielbergs Shoah Foundation entwickelt wurde und mittlerweile am Illinois Holocaust Museum bei Chicago eingesetzt wird. Schoa-Überlebende wurden dafür interviewt und mit zahlreichen Kameras aufgenommen. Mithilfe von Spracherkennung und Algorithmen können die daraus kreierten Hologramme scheinbar interaktiv auf Fragen von Museumsbesuchern reagieren – die Illusion eines Gesprächs mit Zeitzeugen entsteht.
Schoa-Überlebende wurden dafür interviewt und mit zahlreichen Kameras aufgenommen.
SKEPSIS Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, hegt eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Zeitzeugengespräch als Schlüssel zur Erinnerung: »Es ist unangebracht, die gesamte Verantwortung für die Vermittlung der Geschichte und der Erinnerungskultur auf die Schultern der Zeitzeugen zu legen.« Selbstverständlich handele es sich um einen wichtigen Weg der Vermittlung, aber es sei eben nur eine Perspektive. »Es ist eine sehr subjektive Form der Erinnerung, es ist die Perspektive des Opfers«, sagt Mendel.
Tatsächlich seien ja normalerweise die überlebenden Verfolgten gemeint, wenn von Zeitzeugen die Rede ist, so Mendel. Doch auch die Täter und die Zuschauer der Verbrechen seien ja Zeitzeugen gewesen. »Und nun sterben ja nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter.« Dabei werde die Rolle der Vermittlung der Täternarrative von Generation zu Generation massiv unterschätzt. »Ich denke, dass es wichtig ist, nicht nur die Opferperspektive zu vermitteln, sondern auch die Tätergeschichte – gerade in Deutschland.«
Auch was die nachkonstruierten Zeitzeugengespräche mit Hologrammen angeht, ist Mendel aus pädagogischer Sicht skeptisch: »Wir dürfen Jugendlichen nicht etwas zeigen, was nicht wirklich ist.« Er hält es für sinnvoller, andere, neue Vermittlungsformen zu entwickeln und nicht durch bloße Technik Zeitzeugen eins zu eins ersetzen zu wollen. Dennoch will er sich zusammen mit Kollegen im Mai in den USA selbst ein Bild machen.