Herr Nachama, am 1. September wird an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren erinnert. Welche Bedeutung hat dieser Tag heute?
Er markiert nicht nur den Beginn des Zweiten Weltkriegs, sondern auch der Schoa. Mit der Besetzung des westlichen Teils Polens durch die Wehrmacht beginnt die Ermordung der polnischen Juden.
Ist dieser Tag im Bewusstsein der Deutschen ausreichend verankert?
Ich fürchte nicht. Nur wenige sind sich darüber im Klaren, was dieser Tag für die europäischen Juden und für Europa bedeutet. Durch den kurz zuvor abgeschlossenen Hitler-Stalin-Pakt wurde Polen zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt. Die heutige Ostgrenze Polens ist die in dem damaligen Vertrag festgelegte. Insofern beginnt mit diesem Tag etwas, was ganz Europa umgestaltet hat. Ich glaube nicht, dass man sich in Deutschland dessen bewusst ist.
Wie kann dem entgegengewirkt werden?
Man muss mit den Mitteln, die der politischen Bildung zur Verfügung stehen, klarmachen, welch ein einschneidender Tag dieser 1. September 1939 in der Geschichte des 20. Jahrhunderts und bis heute ist. Damals wurde etwas losgetreten, was unsere Welt bis heute prägt.
Welche Mittel sind das genau?
Dazu zählen der Schulunterricht, aber auch symbolische Akte wie Gedenkfeiern im Deutschen Bundestag oder Gedenkveranstaltungen vor Ort. Es gibt ja durchaus Beispiele, wie das geschehen kann. Denken Sie an den 3. Oktober. Jedes Jahr hat ein anderes Bundesland die Federführung, und dadurch verleiht man diesen Tagen auch einen ganz anderen Ausdruck. Nur, dass es nichts Freudiges ist, sondern etwas sehr Ernstes.
Könnte ein Dokumentationszentrum über den Vernichtungskrieg ein Weg sein, den Tag stärker ins Bewusstsein zu rücken?
Ich weiß nicht, ob wir noch ein solches Zentrum brauchen. Nach meinem Dafürhalten sollte man an öffentlichen Orten – Bushaltestellen, Theatern – diesen 1. September so herausstellen, dass den Menschen klar wird: Das war eine Zäsur. So wie der 8. Mai ein Tag der Befreiung und der 3. Oktober ein Tag der Freude ist, so sollte der 1. September zu einem Tag werden, an dem für jeden verständlich wird: Hier begann millionenfaches Morden an den europäischen Juden und Nichtjuden.
Seitens der polnischen Regierung werden Forderungen nach Reparationszahlungen Deutschlands laut. Wie ist Ihre Meinung?
Der wesentliche Punkt im Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg ist nicht Geld, sondern man muss die Zerstörung begreifen, die über Europa und die europäischen Juden hereingebrochen ist. Dieser Tag muss als ein Tag der Mahnung verankert werden, der zeigt, dass man mit Kriegen und scharf gemachten Grenzen in Europa nichts erreicht.
Mit dem Direktor der Stiftung Topographie des Terrors sprach Katrin Richter.