Boykottaufruf

»Die Wahrheit spielt längst keine Rolle mehr«

Der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen Lars-Henrik Gass wehrt sich gegen eine Diffamierungskampagne von Hamas-Sympathisanten. Für die Zukunft des deutschen Kulturbetriebs sieht er schwarz

von Sophie Albers Ben Chamo  06.05.2024 12:26 Uhr

Lars-Henrik Gass
»Eine derartige Spaltung, einen derartigen Zwang zur Konformität gab es niemals zuvor«: Lars-Henrik Gass (58) Foto: Daniel Gasenzer

Der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen Lars-Henrik Gass wehrt sich gegen eine Diffamierungskampagne von Hamas-Sympathisanten. Für die Zukunft des deutschen Kulturbetriebs sieht er schwarz

von Sophie Albers Ben Chamo  06.05.2024 12:26 Uhr

Herr Gass, seitdem Sie kurz nach den Hamas-Massakern des 7. Oktober zur Solidarität mit Israel aufgerufen haben sowie zu einer kollektiven Verurteilung von Hamas-Sympathisanten und Judenhassern, werden sie beleidigt, bedroht und boykottiert. Wie war der Moment, als Sie begriffen haben, dass das Normale nicht mehr normal ist?
Ich war wirklich entsetzt über die Empathielosigkeit, die sich insbesondere im Kulturbetrieb geäußert hat, aber auch in weiten Teilen der Geisteswissenschaften bis in mein nächstes Umfeld hinein. Dass man sofort mit Kontextualisierung kam, dass man sofort versucht hat zu relativieren, das hat mich schockiert! Und ich konnte mir das auch nicht erklären. Doch ich musste sehr schnell begreifen, dass das Ausdruck einer Entwicklung zu sein scheint, die ich über Jahre ein bisschen unterschätzt habe und die an diesem Punkt Formen annahm, die mich wirklich sprachlos gemacht haben.

Haben Sie auch Zuspruch bekommen?
Sicherlich. Aber nicht unbedingt von den Leuten, auf die ich gezählt habe. Das ist Teil der Ernüchterung, die sich bei mir einstellt, dass meine geistige, intellektuelle, auch politische Heimat völlig versagt. Und dass ich auf einmal Zuspruch bekomme von Leuten, die politisch ganz anders positioniert sind als ich.

Hatten Sie auch Angst?
Ich hatte mehr Angst um die Menschen in Israel und Juden in Deutschland als um mich selbst. Angst ist vielleicht auch das falsche Wort. Es war eher dieses Gefühl der Einsamkeit, das ich so bisher nicht kannte, und das Ausdruck davon ist, dass sich bis heute kein Festivalkollege, weder aus Deutschland noch aus dem Ausland, überhaupt bei mir gemeldet hat. Geschweige denn mein ganzes professionelles Umfeld. Da werden Ressentiments gezielt durch Diffamierungen, Falschinformationen, Zweideutigkeiten befeuert, um Leute zu diskreditieren. Das, was in diesem Boykottaufruf gegen das Festival und mich geschrieben, gesagt, behauptet wird, könnte ich vor jedem deutschen Gericht mit Erfolg angreifen. Aber eben nicht im Internet.

Sie sagten gerade, dass Sie sich nicht erklären konnten, was da passiert ist. Haben Sie mittlerweile eine Erklärung gefunden?
Die ist relativ einfach, führt uns alle aber nicht wesentlich weiter. Ich habe unterschätzt, dass weite Teile des Kulturbetriebs den Antisemitismus und das Ressentiment als eine Art von ritueller Vergemeinschaftung benötigen. Der Kulturbetrieb ist mit Reinheitsfantasien beschäftigt. Das konnte man auch an der letzten Documenta sehen. Eigentlich verbindet uns alle im Kulturbetrieb nichts. Wir leben alle in mehr oder weniger prekären beruflichen Verhältnissen, und das einzige, was diese Vergemeinschaftung fiktional herstellen kann, ist der Hass auf Israel. Der neue Antisemitismus zeigt sich sehr stark als israelbezogener Antisemitismus, als sogenannter Antizionismus. Keiner dieser Leute würde sich als Antisemit bezeichnen. Es geht so weit, dass sie den israelbezogenen Antisemitismus sogar unter der Fahne des Antiantisemitismus betreiben. Ich finde diese Entwicklung sehr erstaunlich und habe sie viel zu spät erkannt.

War dieser Antisemitismus schon immer da, oder ist er neu?
Ich bin kein Spezialist in diesen Fragen. Mein laienhaftes Verständnis davon ist, dass der Kulturbetrieb insbesondere in den letzten fünf Jahren ganz sichtbar, Erzählungen und kulturelle Codes der Ideologisierung betrieben hat, was auch eine Reaktion ist auf Veränderungen im sozioökonomischen Feld, in dem wir alle tätig sind. Damit meine ich den Kampf um Fördermittel, und die immer größere Zahl von Leuten, die in diesem Bereich tätig sein wollen. Der Verteilungskampf ist enorm und wird auch über solche Erzählungen ausgetragen. Sehr vereinfacht gesagt: Es gibt viele Leute, die zweifelsohne weiß, privilegiert und männlich sind, wie ich selbst, die genau diese Erzählungen massiv propagieren, wohl in der Erwartung, selbst nicht erfasst zu werden von den Verteilungskämpfen, die sie gegen andere damit gewissermaßen initiieren.

Es geht also um Gier?
Auf diesen Begriff wäre ich jetzt nicht gekommen. Ich glaube, dass in einer langsamen Entwicklung seit dem Ende der 60er-Jahre immer stärker außerästhetische Kriterien an die Ästhetik angelegt wurden. Stichwort Postkolonialismus. Man hat sich mit den eigentlichen Artefakten, der Kunst selbst kaum noch befasst, sondern eher mit
der Frage, wer diese Kunst herstellt, was sie vermittelt und wofür sie steht. Mittlerweile werden Diskussionen sofort mit Rassismusvorwürfen belegt, wenn andere ästhetische Auffassungen im Raum stehen.

Schmerzt es Sie nicht als Leiter dieser Institution, die mit dem Manifest gegen »Papas Kino« von 1962 gegen die deutsche Verdrängung, für eine kritische Auseinandersetzung gekämpft hat, mit ansehen zu müssen, wie diese Errungenschaften demontiert werden?
Was wir gerade erleben, weist weit über Oberhausen hinaus. Veranstaltungen wie die Kurzfilmtage Oberhausen, die documenta fußen auf universalistischen Ansprüchen an die Gesellschaft. Diese Formate und Institutionen sind aus der Erfahrung von zwei Weltkriegen, von Faschismus und Nationalsozialismus entstanden. Das darf man nicht vergessen. Und diese Formate sind in eine Krise geraten. Wir steuern auf eine Situation zu, in der wir lauter zionistische und antizionistische und palästinensische und diese und jene Festivals haben werden, aber keinen Ort mehr, an dem ein kritischer Diskurs möglich ist, an dem es einen Widerstreit gibt, wo es um das beste Kunstwerk und das bessere Argument geht.

Also eine Abbildung der Onlinewelt. Nichts als Echokammern.
In denen sich alle nur noch bestätigt sehen wollen in ihren eigenen Ansichten. Durch solche Kampagnen wird man in Rollen gedrängt, die man gar nicht einnehmen will. Im vergangenen Jahr hatten wir noch ein Programm, das palästinensischen Filmemachern gewidmet war. Das ist gar nicht mehr möglich. Ein Beispiel: Wir hatten einen Filmverleih, der sagte, er werde nur noch teilnehmen, wenn sie einen bestimmten palästinensischen Filmemacher präsentieren dürften. Wir haben gesagt, natürlich, der war schon vor Jahrzehnten hier, zeigt ihn doch. Und dann hat der Filmemacher doch nicht teilnehmen wollen, und der Verleih hat abgesagt.

Das hört sich nach einem Schauprozess an, einem erzwungenen Skandal.
Genau! Es geht nur um Schauprozesse und Volksgerichte, um öffentliche Skandalisierung. Und um eins geht es überhaupt nicht mehr, und das ist Aufklärung. Die Wahrheit spielt längst keine Rolle mehr.

Wie viele Filme wurden denn abgesagt?
Die Anzahl der Filmeinreichungen für die Wettbewerbe ist ungefähr die gleiche wie im vergangenen Jahr. Aber ich habe über 15 Jahre lang einen Ort aufgebaut, der internationalen Filmverleihern gewidmet war. Die sollten in diesem Jahr 14 Programmplätze haben. Von den 14 eingeladenen Filmverleihern haben elf abgesagt.

Mit Angabe von Gründen?
Teilweise nicht dezidiert begründet, aber es konnte ja nur darum gehen. Und da ist wieder die Affektlogik solcher Kampagnen. Selbst wenn einzelne Leute vielleicht gar nichts gegen uns haben, werden sie von allen anderen unter Druck gesetzt.

Glauben Sie daran, dass sachliche Diskussionen wieder möglich sein werden?
Einerseits wissen wir, Stichwort Intifada, dass in der Vergangenheit nach dem Abflauen der kriegerischen Auseinandersetzungen auch solche Phänomene nachlassen. Aber darauf vertraue ich nicht mehr, weil ich glaube, dass sich die Lage seit dem 7. Oktober grundsätzlich geändert hat. Alles ist anders seit dem 7. Oktober. Und da kommen wir auch nicht mehr drüber hinweg, denn eine derartige Spaltung, eine derartige Vereindeutigung von Verhältnissen, einen derartigen Zwang zur Positionierung und zur Konformität gab es niemals zuvor. Man muss sich das mal klarmachen: Der Kulturbereich, gerade in der Zeit seit dem Nationalsozialismus und den zwei Weltkriegen, war der Bereich, in dem gesellschaftliche Auseinandersetzungen nicht nur ausgetragen werden mussten, sondern auch harmonisiert werden konnten. Das ist vorbei.

Was heißt das für Ihre Arbeit? Was heißt das für das Festival?
Es gibt ein Problem für dieses Festival, aber schon längst ein Problem für den gesamten Kulturbetrieb. Auch und gerade in Deutschland, in dem man offenbar der Auffassung ist, dass man, um israelbezogenen Antisemitismus äußern zu können, gewissermaßen Rechte auf Kulturförderung reklamieren könne.

Das hört sich ziemlich hoffnungslos an.
Meine Hoffnung ist nicht das, worauf es ankommt, sondern Leute, die etwas verändern. Die gibt es sicher, aber ich werde möglicherweise diese Veränderung nicht mehr erleben.

Mit dem Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage sprach Sophie Albers Ben Chamo.

Lars-Henrik Gass wurde gerade von der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft (DIG) mit der Ernst-Cramer-Medaille 2024 ausgezeichnet, »für seine Zivilcourage, seinen Anstand und für sein Rückgrat angesichts des antisemitischen Ressentiments«.

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