Das 20. Jahrhundert war das schwärzeste in der Geschichte der Menschheit. Es war für niemanden ein leichtes Zeitalter: nicht für die Polen, nicht für die Ukrainer, nicht für die Chinesen, nicht für die Äthiopier, auch nicht für die Deutschen. Für die Juden aber war es tödlich.
Das 20. Jahrhundert begann nicht Schlag Mitternacht am Ende des Jahres 1899. Im Gegenteil, zu jener Zeit hätte man sich den kommenden Schrecken noch nicht ausmalen können, und wer das doch getan hätte, wäre unfehlbar im Irrenhaus gelandet.
Wann also begann das grausame Jahrhundert? Vor ziemlich genau 100 Jahren. Am 28. Juni des Jahres 1914 erschoss ein dummer serbischer Nationalist, der die Volljährigkeit noch nicht erreicht hatte, in Sarajevo den Thronfolger des Habsburgerreiches und seine Frau. Das war der Schneeball, der die Lawine auslöste: den Ersten Weltkrieg, ein nie da gewesenes gegenseitiges Hinmetzeln von jungen Männern auf den Schlachtfeldern von Europa. Der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe, die »conditio sine qua non«, ohne die nichts von dem möglich gewesen wäre, was hinterher kam.
Zeitalter Gewiss, der Erste Weltkrieg wurde noch nach Regeln ausgefochten, die aus einem früheren Zeitalter stammten: Wer die Hände hob, konnte also darauf rechnen, dass man ihn ehrenhaft als Kriegsgefangenen behandelte, und die massenhafte Abschlachtung von Männern, Frauen und Kindern gehörte noch nicht zum Standardprogramm.
Der deutsche Kaiser ließ sogar Flugblätter drucken, auf denen er seinen »lieben Jidden in Poiln« versprach, er werde sie vom zaristischen Joch befreien. Und selbstverständlich haben Juden ihren jeweiligen Vaterländern in diesem Krieg tapfer und treu gedient. Zwei Beispiele mögen genügen: Siegfried Sassoon, der in britischer Uniform wütende Antikriegsgedichte verfasste – und Franz Rosenzweig, der in deutscher Uniform auf unzähligen Feldpostkarten sein Hauptwerk, den »Stern der Erlösung«, notierte.
Dieser Krieg war also noch nicht so schrecklich wie das, was danach kam. Aber die Nazis und Kommunisten wurden in seinen Schützengräben geboren. Vor dem Ersten Weltkrieg war Stacheldraht etwas gewesen, womit amerikanische Farmer im Mittleren Westen ihre Kühe einzäunten; danach wurde er zu einem Mittel, um Menschen einzusperren. Und nicht zu vergessen: Im Schatten des Ersten Weltkriegs verübte das Regime der Jungtürken den Völkermord an den Armeniern. Mehr als eine Million Menschen wurden massakriert, ausgeraubt, in die Wüste getrieben, wo sie Pferdekot aßen und elend krepierten. Das Deutsche Kaiserreich war ein Komplize dieses Völkermordes.
Vor der Urkatastrophe befand sich der Marxismus auf dem besten Weg in die Verbürgerlichung – dank intellektueller Riesen wie Eduard Bernstein, der für ein langsames »Hineinwachsen« in den Sozialismus plädierte: ohne Blut, ohne Umsturz, ohne Gewalt und Terror. Aufgrund des Krieges aber wurde 1919 in Moskau die »Dritte Internationale« gegründet, unter der Federführung eines zänkischen Journalisten namens Lenin, der gerade eben zum russischen Diktator aufgestiegen war. Der Rest ist Geschichte.
Geschichte Vor der Urkatastrophe waren die »Protokolle der Weisen von Zion« – jene infame antisemitische Fälschung – ein russisches Buch, das keinen Menschen interessierte. Danach wurde es zu einem Standardtext der antibolschewistischen »Weißen«, die im russischen Bürgerkrieg 100.000 Juden niedermetzelten. In der Folge verbreiteten die »Protokolle« sich auf der ganzen Welt. Der Rest ist Geschichte.
Nach der Urkatastrophe wurden die alten Monarchien zerschlagen, in denen Juden über Jahrhunderte weitgehend sicher gelebt hatten: das Reich der Habsburger, das Reich der Osmanen. Die bunten Flickenteppiche zerrissen, jeder Stamm bekam seinen eigenen Nationalstaat. Mit einer Ausnahme: den Juden. Ihnen wurde 1917 von den Briten zwar ebenfalls ein eigener Flecken Land versprochen, eingelöst wurde jenes Versprechen aber erst 30 Jahre und einen Völkermord später.
In den 90er-Jahren, nach dem Fall der Berliner Mauer, konnte man sich einen Moment lang der Illusion hingeben, das schwarze 20. Jahrhundert sei vergangen. Freilich musste man dabei über Kleinigkeiten wie das ethnische Gemetzel im ehemaligen Jugoslawien, den Mord an den bosnischen Muslimen, den Genozid in Ruanda hinwegsehen.
Doch an einem schönen Tag im blauen Monat September, als zwei Hochhaustürme in New York in Rauch aufgingen, meldete das schwarze Jahrhundert sich mit einem Donnerschlag zurück. Seither wütet in Zeitlupe ein nächster Weltkrieg mit verwirrenden Fronten, in dem vor allem zwei Fragen offen bleiben: Wann wird das 20. Jahrhundert zu Ende gehen? Und wie wird es um den Staat Israel stehen, wenn der Schrecken vorbei ist?
Der Autor ist Verfasser des Romans »Der Komet« (Galiani, Berlin, 272 S., 18,99 €).