Bis zuletzt waren sie in der politischen Deckung geblieben. Die ersten Aufrufe von Facebook-Aktivisten zum »Tag des Zorns« hatten die »Muslimbrüder« lediglich mit leisem Applaus begleitet, ohne sich anzuschließen. Erst als sich der Aufstand in Ägypten auszubreiten begann, beorderte ihre Führung die Anhänger mit auf die Straße.
Mittlerweile wird die Islamistenorganisation, die eigentlich seit 1954 verboten ist, vom Mubarak-Regime intensiv umworben. Der neue Vizepräsident Omar Suleiman rief sie auf, sich am nationalen Dialog zu beteiligen. »Sagt dem Mursched, er soll sich mit uns zusammensetzen«, rief Verteidigungsminister Mohammed Hussein Tantawi der Menge zu, als er sich am vergangenen Freitag als erstes Mitglied der Regierung auf dem Tahrir-Platz sehen ließ.
Gemeint ist Mohammed Badie, der Chef der »Muslimbrüder«. »Wir sind eingeladen, und wir kommen«, ließ er nach 48 Stunden Bedenkzeit durch seinen Sprecher erklären – und schickte am Sonntag zum ersten Mal seit fünf Jahrzehnten eine Delegation zu offiziellen Gesprächen.
Am Ende des Tages war die Ernüchterung groß. Man könne keine ernsten Anstrengungen für Reformen erkennen, erklärte die islamistische Organisation. Viele ihrer politischen Forderungen seien überhaupt nicht, andere nur »sehr oberflächlich« beantwortet worden. Trotzdem werde man nicht gleich aufgeben.
In der sogenannten Parallelregierung, einem Zusammenschluss mehrerer Oppositionsgruppen, sind die Muslimbrüder als stärkste Kraft vertreten. Als Mohammed el-Baradei zum Sprecher dieses Schattenkabinetts ausgerufen wurde, bezeichneten die Islamisten den früheren Chef der UN-Atomenergiebehörde auf ihren Webseiten als »Esel der Revolution«, als sympathische Marionette zur Beschwichtigung der Welt.
einfluss 1928 in Ägypten gegründet, ist die Muslimbruderschaft die älteste und am besten organisierte islamistische Gruppierung im Land. Zu den Zentren zählen neben der Hafenstadt Alexandria auch Orte wie Assiut und Qena in Mittel- und Oberägypten. 160.000 Moscheen im Land gehören zu den Muslimbrüdern.
In allen Regionen unterhält die Organisation Nachbarschaftsnetze, Sozialstationen und Kliniken, allein in Kairo sind es sieben Krankenhäuser. Sie dominieren Berufsverbände, wie etwa die der Anwälte, Ärzte und Apotheker. Seit 1984 stellen sie »unabhängige« Kandidaten für Parlamentswahlen.
Den größten Erfolg errangen die Muslimbrüder 2005, als sie auf 88 der 455 Mandate kamen – fast 20 Prozent. Immer wieder versuchten sie im Parlament, kritische Aussprachen über die Politik der Nationaldemokratischen Partei (NDP) von Noch-Präsident Hosni Mubarak herbeizuführen. Die NDP wurde 1978 von dessen Vorgänger, Anwar al-Sadat, gegründet.
Bei den letzten Wahlen im November und Dezember 2010 wollten das Regime und die NDP einen erneuten Erfolg der Islamisten verhindern. Durch massive Fälschungen drängten sie sie komplett aus der Volksvertretung. Nach eigenen Angaben hat die Muslimbruderschaft inzwischen Ableger oder von ihr inspirierte Parteien in 70 Staaten der Erde. Allein in Ägypten beläuft sich die Zahl der aktiven Mitglieder auf mindestens 100.000, insgesamt sollen es 600.000 sein. Wie stark sie bei freien Wahlen würden, ist schwer zu prognostizieren.
Doch sollte es tatsächlich zu einem Sturz des Regimes kommen, werden die Islamisten ohne Zweifel zu den prägenden Kräften gehören. Im Leitungsrat der »Koalition für Wandel« auf dem Kairoer Tahrir-Platz sind die Muslimbrüder mit Abgesandten vertreten.
Koran Intern hat ihr General- sekretariat die Losung ausgegeben, während der Phase des Machtübergangs nicht offiziell über eine islamische Republik am Nil zu spekulieren, um die Ägypter und die Regierungen im Ausland nicht zu alarmieren. So sieht man unter den Demonstranten auffallend wenig bärtige Männer, die den Koran schwingen und »Islam ist die Lösung« skandieren. Doch auch viele Ägypter befürchten, dass die Revolution einen Bart bekommen könnte.
Kritiker, sowohl in Ägypten als auch im Ausland, werfen der Bruderschaft vor, ihre wahren Ziele zu verschleiern. Diese seien: eine islamistische Verfassung mit Bezug auf die Scharia, das islamische Gesetzbuch, mindere Rechte für Frauen und den Bruch mit Israel. Bislang beteuern Sprecher der Muslimbrüder, sie wollten, einmal an der Macht, »alle internationalen Verträge Ägyptens einhalten«, also auch den Friedensvertrag mit dem jüdischen Staat.
Doch unklar ist, ob solche Ankündigungen, sollten sie überhaupt ernst gemeint sein, nur von einem gemäßigten Flügel der Organisation geäußert werden. Ihren Hass auf Ägyptens Nachbarn Israel hegen die Islamisten nämlich nachhaltig. Auf ihrer Webseite wird Israel nur als »IOF« bezeichnet, als israelische Besatzungsmacht. Die zentrale Forderung der Satzung lautet: Annullierung des Friedensvertrags mit dem jüdischen Staat. Immer wieder verlangten Parlamentsabgeordnete der Muslimbrüder, Israels Botschafter des Landes zu verweisen. Ob diese Position innerhalb der Organisation weiterhin merheitsfähig ist, lässt sich nicht sicher sagen.
Die internen politischen Beratungen der Muslimbrüder, die wie eine Loge agieren, sind geheim. Ideologisch scheint die ägyptische Bruderschaft inzwischen in drei Fraktionen gespalten: Die konservativen Dogmatiker der alten Garde beherrschen das Generalsekretariat, haben die Kontrolle über die interne Verwaltung und die Verteilung der Finanzmittel.
Vor allem beim Nachwuchs auf dem Land finden sie eine beträchtliche Gefolgschaft. Die Mehrheit der Mitglieder, darunter viele Abgeordnete, gehört aber dem Flügel der konservativen Pragmatiker an. Sie versuchen, ihre islamistischen Überzeugungen mit praktischer Arbeit vor Ort zu verbinden. Die kleine, dritte Strömung besteht aus einer Handvoll Reformern, die für eine offenere Interpretation des Korans werben. Im Generalsekretariat sind sie kaum vertreten, an der Basis haben sie nur wenige Anhänger.
gemässigt Ob am Ende die Dogmatiker oder die Pragmatiker die Oberhand behalten, lässt sich schwer sagen. Doch Amr Schubaki, politischer Analyst des Al-Ahram-Zentrums für strategische Studien in Kairo, schätzt den Anteil dieser gemäßigten Muslimbrüder »auf nicht höher als 15 Prozent«.
Vor einem Jahr entluden sich die internen Spannungen mit dem überraschenden Rücktritt des langjährigen Murscheds Mohamed Akef, dem ersten Rücktritt an der Spitze in der Geschichte der Organisation überhaupt. »Wir wollen die Macht nicht monopolisieren«, versichert immer wieder ihr Sprecher Essam el-Erian, der der Führungsriege der Islamisten angehört. »Wir wollen ein Klima von fairem Wettbewerb, das uns endlich erlaubt, regulär um die politische Macht zu kämpfen.«