Schock ist das mildeste Wort, um den Zustand der Ukrainer nach dem Streit zwischen Präsident Selenskyj und dem Hausherrn des Oval Office, Donald Trump, zu beschreiben.
Die Vorgeschichte ist bekannt. Vor einem Monat erst hat Trump unter anderem gefordert, die Ukraine »müsse« Russland eine Reihe von Gebieten abtreten, auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten und die Unterstützung durch der Vereinigten Staaten mit nationalen Ressourcen bezahlen. Dann beschuldigte der amerikanische Staatschef, mit Orwellscher Leichtigkeit Opfer und Aggressor vertauschend, die Ukraine direkt der Entfesselung des Krieges und forderte die Abhaltung von Wahlen. Denn angeblich liege die Zustimmung für den »Diktator« Selenskyj nur noch bei 4 Prozent, so Trump. In Wirklichkeit sind es 57 Prozent. Fast zehn Prozent mehr, als die Zustimmung der Amerikaner für Trump nach einem Monat im Amt.
Vor diesem Hintergrund sollte der Skandal im Weißen Haus nicht überraschen. Zwar hatte Selenskyj verstehen müssen, dass er zu einer protokollarischen Veranstaltung fährt, bei der nur ein Austausch von Höflichkeiten und ein kurzer Smalltalk angebracht sind, und keine ernsthaften Verhandlungen. Allerdings wären Höflichkeiten kaum angebracht gewesen angesichts der Beleidigungen Trumps gegen seinen Vorgänger Biden in Anwesenheit eines ausländischen Staatsoberhaupts und Dutzender Fernsehkameras.
Bemerkenswert ist, dass Trumps seine verbalen Angriffe auf die Ukraine mit Bemerkungen über »gesunden Menschenverstand« und Realpolitik garnierte. Nun, jede Zeit hat ihren eigenen »gesunden Menschenverstand«. Einst galt es als »gesunder Menschenverstand«, kranke und schwache Säuglinge von einer Klippe zu werfen.
Mit der Realpolitik ist es noch komplizierter. Denn es gibt die Realpolitik Chamberlains (»Es ist Frieden für unsere Zeit«), die Realpolitik Reagans (»Reich des Bösen«) und die Realpolitik Trumps - dessen Aussagen manchmal schwer von Putin-Zitaten zu unterscheiden sind.
»Ein zynisches Arschloch wie Nixon oder Amerikas Hitler«
Der Grund liegt im Fehlen jeglicher Werte in der derzeitigen US-Administration – sowohl ideologischer als auch ethischer. Trump selbst registrierte sich 1987 als Republikaner, trat dann der Unabhängigkeitspartei bei, war Demokrat, wieder Republikaner, dann parteilos und fand erst 2012 sein heutiges politisches Zuhause. So ist auch sein Umfeld. Vor den Wahlen 2016 sinnierte Vize J. D. Vance darüber, ob Trump »ein zynisches Arschloch wie Nixon oder Amerikas Hitler« sei. Bereits in der Zeit seines jetzigen Chefs als 45. Präsident nannte Vance diesen eine »moralische Katastrophe«. Doch als der ehemalige Militärjournalist spürte, woher der Wind weht, freundete er sich mit Trumps Sohn an und trat freudig in den engsten Kreis des Präsidenten.
Im Jahr 2022 bestand der heutige Außenminister Marco Rubio, der damals Senator von Florida war, auf bedingungsloser und umfassender Unterstützung der Ukraine und nannte Putin einen Lügner und Kriegsverbrecher. Im Februar 2025, nach drei Jahren blutigen Krieges, sinnierte derselbe Rubio über »unglaubliche Möglichkeiten für eine Partnerschaft mit Russland«.
Führungskrise der westlichen Welt
Kann man von diesen Leuten irgendein zivilisatorisches Mitgefühl für die Ukraine erwarten? Warum denn? Diktiert doch ihr »gesunder Menschenverstand«, eine Partnerschaft mit einem Diktator aufzubauen, der seit einem Vierteljahrhundert auf dem Thron sitzt und all jene Werte vernichtet hat, für die sie angeblich eintreten: Redefreiheit, unabhängige Presse, ideologische Vielfalt, politische Opposition ...
All dies spielt im Weißen Haus keine Rolle mehr, da Putin stärker ist und Atomwaffen besitzt – das ist Grund genug für Freundschaft und Partnerschaft. Kaum jemals hat die westliche Welt eine so tiefe Führungskrise erlebt.
Paradoxerweise wird diese, unabhängig vom Ausgang des russisch-ukrainischen Krieges, langfristig Trumps Ruf und den der USA schaden. Gibt die Ukraine allen Forderungen Putins nach, wird die Welt darin das Ergebnis des Verrats durch den engsten Verbündeten sehen – die größte Demokratie der Welt. Kleine Länder der zweiten und dritten Welt werden sich zehnmal überlegen, ob sie im Kielwasser westlicher Demokratien fahren oder eine Partnerschaft mit China und Russland eingehen sollen. Nichts Persönliches, nur »gesunder Menschenverstand«.
Sollte sich die Ukraine jedoch mithilfe eines geeinten Europa behaupten, wird der Schlag für Trumps Ego noch schmerzhafter sein. Das Image des Machos, der über das Schicksal der Welt entscheidet, wird in Vergessenheit geraten.
Putin spielt die »jüdische Karte«
Nutznießer der Ereignisse des vergangenen Monats ist Wladimir Putin. Was er nicht einmal verbirgt. Vor diesem Hintergrund spielt der Kreml weiterhin die »jüdische Karte« – der russische Außenminister Lawrow bezeichnete Wladimir Selenskyj erneut als »waschechten Nazi und Verräter am jüdischen Volk«.
Gibt es überhaupt etwas Positives am Skandal im Oval Office? Auf jeden Fall! Europa beginnt, seinen Platz als Hüter westlicher Werte zurückzugewinnen - nicht umsonst werden sie europäische genannt. Alle führenden EU-Staats- und Regierungschefs haben Erklärungen zur bedingungslosen Unterstützung der Ukraine abgegeben. Darunter der scheidende deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der künftige – Friedrich Merz, der betonte: »Wir stehen der Ukraine in guten wie in schwierigen Zeiten zur Seite. Wir dürfen in diesem schrecklichen Krieg niemals Angreifer und Opfer verwechseln.«
Schließlich versprach die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, die Unterstützung für die Ukraine zu verstärken und merkte an: »Heute ist klar geworden, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht. Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen.«
Hoffen wir, dass es so sein wird. Andernfalls stehen nicht nur der Ukraine, sondern ganz Europa dunkle Zeiten bevor. Denn Trump mit seinem »gesunden Menschenverstand« wird jeden verschlingen, in dem er keine Stärke spürt.