Herr Steinitz, Anfang 2017 haben Sie den RIAS-Jahresbericht 2016 vorgestellt. Gab es einen Vorfall, der Sie emotional besonders berührt hat?
Ein orthodoxer Jude war im Wedding auf dem Weg zur Synagoge, als er von zwei Radfahrern angehalten wurde. Sie fragten ihn, ob er Jude sei. Dann beschimpften sie ihn, spuckten ihm ins Gesicht und fotografierten ihn mit dem Handy. Einer der Angreifer erklärte, er sei Palästinenser. Dieser Vorfall war besonders hässlich.
Wie ging der Betroffene damit um, und was hat RIAS gemacht?
Der Mann hat sich schon am Samstagabend bei uns gemeldet, am Sonntag wurde Anzeige erstattet. Später sah der Betroffene bei der Polizei Bilder von möglichen Tätern durch, hat aber niemanden identifizieren können.
RIAS sammelt solche Meldungen und erstellt auf dieser Grundlage einen Bericht. Ist ein solcher Vorfall exemplarisch?
Ja, denn er zeigt, dass es dort, wo Juden als solche erkennbar sind, zu Vorfällen kommen kann. Das können sehr unterschiedliche Dinge sein – nicht nur, wenn jemand eine Kippa trägt, sondern auch, wenn Hebräisch gesprochen wird. Als etwa in einer Kneipe am Kreuzberger Heinrichplatz jemand bemerkte, dass an seinem Tisch auch Israelis saßen, stand er auf, ging weg, kam wieder und schlug dem Israeli auf den Kopf. Bei der Auseinandersetzung brach ein Finger des Opfers. Oder ein vermeintlich kleines Beispiel: dass vor einer Hinterhauswohnung eine Mesusa von der Tür abgerissen wurde. Das setzt ja schon Wissen voraus – dass man die Mesusa als jüdischen Ritualgegenstand erkennt. Das zeigt sich übrigens auch bei Beleidigungen im Internet. Es ist erstaunlich, mit wie viel Wissen Schmähungen ausgestoßen werden.
Im Jahresbericht ist von einem Anstieg der antisemitischen Vorfälle die Rede. Wie valide ist Ihr Datenmaterial: Gibt es mehr Vorfälle, oder ist RIAS bekannter geworden?
Ich gehe davon aus, dass es mehr geworden sind. Aber natürlich spielt die Frage, ob Menschen wissen, dass sie sich bei uns melden können, auch eine große Rolle. Und selbst, wenn das bekannt ist, wird es – wie immer bei solchen und vergleichbaren Delikten – eine große Dunkelziffer geben. Ich erfahre das, wenn ich in einer Synagoge bin und die Menschen mir dort von Angriffen oder Beleidigungen erzählen; und wenn ich gleichzeitig weiß, dass aus dieser Synagoge in einem ganzen Jahr nur zwei Fälle bei uns gemeldet wurden. Die Dunkelziffer ist enorm hoch. Wir bringen mit unserem Meldesystem nur ein wenig Licht ins Dunkel, mehr nicht. Im Jahr 2013 gab es eine große Studie, nach der 72 Prozent der Juden in Deutschland die schwersten antisemitischen Vorfälle, die sie erlebt hatten, nirgends meldeten – weder der Polizei noch zivilgesellschaftlichen Einrichtungen.
Können Sie etwas über die Qualität der Vorfälle sagen? Sind Angriffe und Pöbeleien intensiver geworden?
Wir beobachten etwa bei Beleidigungen, dass sie stärker als früher mit Vernichtungsfantasien einhergehen. Vergleichsweise einfache antisemitische Beleidigungen über »Scheißjuden« oder Ähnliches gehen sehr schnell über in Beschimpfungen, die sich Begriffen wie »Auschwitz« oder »Vergasen« bedienen. Das kann in einer vollen Straßenbahn passieren, dass jemand sagt: »Hitler hätte seinen Job mal zu Ende machen sollen.«
Die Rede ist ja immer von Problembezirken oder No-Go-Areas, etwa Neukölln, Wedding oder Moabit. Können Sie bestätigen, dass Juden dort nicht hingehen sollten?
Wir sprechen nicht von No-Go-Areas, denn das würde eine Sicherheit an anderen Orten behaupten, die es aber so nicht gibt. Der Bezirk mit den zweitmeisten Vorfällen in unserem Jahresbericht ist das bürgerliche Charlottenburg-Wilmersdorf. Es wäre auch falsch, die Frage nach Problembezirken empirisch beantworten zu wollen. Wir registrieren Verunsicherung und die Sorge von Betroffenen, und diese Sorgen sind ja begründet. Sie basieren auf realen Fällen, bei denen sich die Täter als muslimisch, türkisch oder arabisch zu erkennen gegeben haben. Jedoch haben wir 2016 etwa in Neukölln, anders als 2015, keinen physischen Angriff verzeichnet.
Inwieweit verursacht eine Veränderung des politischen Klimas die Bereitschaft zur antisemitischen Tat?
Sehr. Ein Beispiel aus einem politisch linken Milieu: Am Alexanderplatz fand eine BDS-Kundgebung statt, und ein israelischer Tourist, der mit seiner Tochter unterwegs war, kritisierte ein Flugblatt, das ihm dort gegeben wurde. Daraufhin wurde er als »Scheißjude« und »Mörder« beschimpft. Wir erleben also ein politisches Klima, in dem von Juden wie selbstverständlich verlangt wird, sie sollten sich von Israel distanzieren, sonst müssten sie Opfer von Antisemitismus werden.
Mit dem Koordinator der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) sprach Martin Krauß.