Veteranen

Die Sieger

Mit roten Nelken: Kundgebung am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten Foto: Marco Limberg

Die wenigen Hundert noch lebenden jüdischen Veteraninnen und Veteranen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland wären womöglich gar nicht so glücklich über diesen Artikel. »Was willst du denn, wir haben alle gekämpft und gesiegt«, höre ich sie sagen.

Die Veteranen erzählen, so meine Erfahrung als Historiker, viel über ihre Kriegsarbeit und Kameradschaft, deutlich weniger über das Nachkriegsleben und kaum etwas über ihr Leben in Deutschland. Und wenn sie sich überhaupt äußern, dann sagen sie, dass sie dankbar sind, hier zu sein, dass es an nichts fehlt, die Kinder gut versorgt sind und die Enkelkinder studieren.

Gefragt nach den Holocaustopfern in ihren Familien, schweigen die Veteranen meistens. Sie wollen angeblich nicht wissen, worum es geht. Dann verstehen sie: Es geht, wie bei meinem Großvater Mark Belkin, dessen erste Familie in Weißrussland komplett ausgerottet wurde, um die umgebrachten Verwandten.

faschismus Manchmal erzählen die jüdischen Veteranen, dass in der Tat 20 oder 30 Menschen aus ihrer Familie in dem ukrainischen oder weißrussischen Städtchen oder Dorf Soundso umgebracht wurden. Dann weinen sie. Oder sie wollen nicht weiter darüber reden. Alle hätten gelitten, 27 Millionen Sowjetbürger sind im Krieg umgekommen. Sie hätten gekämpft und den Faschismus besiegt, damit er nie wiederkommt.

Die postsowjetischen Juden werden von den deutschen Politikern oft als ein Geschenk bezeichnet. Sie seien da und bezeugten, dass Deutschland anders sei und sich mit seiner Vergangenheit so vorbildlich auseinandersetze, dass die Juden dem Land wieder vertrauen könnten. Ich finde, dies ist eine nicht unproblematische Markierung.

Haben Sie sich einmal gefragt, wie es sich anfühlt, ein Geschenk zu sein? Der Geschenk-Diskurs steht für einen Erlösungswillen der deutschen Gesellschaft und Politik. Man will wieder dazugehören. Und dafür braucht man Juden. Der von niemandem verhängte und trotzdem allgegenwärtige Cherem, ein Bann, von dem Dan Diner in Bezug auf die Nachkriegsgeneration der Juden in Deutschland sprach, wurde vor allem von den heute fast 90-jährigen Veteranen gebrochen.

option Diese Menschen mit ihren merkwürdig anmutenden, medaillenbehängten Sowjet-Anzügen, ihrem rudimentären Deutsch und ihren bescheidenen Zimmern in jüdischen und nichtjüdischen Altersheimen stehen für eine große jüdische Option im 20. Jahrhundert, nämlich: für einen universalistischen Versuch, sich im allgemeinmenschlichen Ganzen aufzulösen. Das ist viel mehr als ein blindes Assimilieren, ein bloßes Vergessen der jüdischen Tradition.

Diese Menschen dachten, sie entfernen sich von allem Nationalen. Das war ihr Tikkun Olam. Die Veteranen verzeihen nicht »den Deutschen«, erteilen ihnen keine Absolution. Die Generation operiert überhaupt selten mit den Kategorien Verzeihung oder Schuld. Sie hassen den deutschen Nazismus, den sie besiegt hatten, und – oh Schreck! – sie mögen oft das Land der Täter. Und sie lieben Israel, so wie man die eigene Hoffnung liebt.

Wir haben massive Schwierigkeiten, positiv anschluss-, ja identifizierungsfähig für die deutsche Gesellschaft zu werden. Das schwarze Loch der NS-Zeit bleibt wie eine Schlucht in Babi Jar in Kiew für immer offen. In Babi Jar stehen heute zahlreiche Mahnmale, Kinder spielen, Paare gehen dort spazieren, und trotzdem weiß jeder – in einer tieferen Schicht dieses Parks, unter der Erde, liegen die Überreste Zehntausender Tote.

befremden
Das Böse, nämlich die Nazis in ihren schwarzen Uniformen, steht heute fest. Nach dem Guten suchen viele in der deutschen Gesellschaft jedoch vergeblich. Vielleicht ist es einfacher, als man denkt: Man überwinde sein Befremden gegenüber der stalinistischen Monumentalität des Mahnmals, und fahre am 9. Mai zum Treptower Park in Berlin. Dort trifft man die seltsam dekorierten älteren Herrschaften mit roten Nelken, in Begleitung ihrer erwachsenen Enkelkinder, die ganz andere (Erinnerungs-)Sprachen sprechen.

Die alten Damen und Herren würden Ihnen nicht gern verraten, ob sie jüdisch sind oder nicht. Nicht weil sie Angst vor Übergriffen haben. Sondern weil die Frage nach jüdisch/nichtjüdisch für sie meistens sekundär ist. Sie haben die Welt und die Menschheit gerettet. Sie lebten dann 50 Jahre in einem Land, das sie nicht gut behandelte und das es heute nicht mehr gibt. Sie haben sich mit diesem Land identifiziert und würden die nationalistischen Experten auslachen, die behaupten, die »Ukrainische Armeegruppe« – also Ukrainer – habe Auschwitz befreit.

Die Veteranen wollten ein »einheitliches Menschenhaus« bauen, »ohne Russlands und Lettlands«, wie der proletarische Dichter Majakowski es hoffnungsvoll angekündigt hatte. Das Projekt ist, wie wir wissen, nicht gelungen. Jetzt leben sie in einem Land, das sie vor Jahrzehnten besiegt haben. Sie hassen den Nationalismus, der wieder aufblüht, und glauben an Humanismus und Internationalismus. Letztere haben momentan keinen leichten Stand.

Wir sollten diesen Menschen 70 Jahre nach dem Kriegsende ein herzliches Spasibo sagen und uns vor ihnen verbeugen.

Der Autor ist 1971 in der Ukraine geboren. Er ist Historiker und Referent des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerkes.

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