Kann eine junge Sekretärin eines NS-Konzentrationslagers Mitverantwortung für die Ermordung tausender Menschen tragen? Ja, entschied der Bundesgerichtshof. Die Frau war nach Überzeugung des Gerichts ein Zahnrad im Getriebe einer Todesmaschinerie.
Mehr als 79 Jahre nach Kriegsende hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Verurteilung einer ehemaligen Zivilangestellten des NS-Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig bestätigt. Die Entscheidung des Landgerichts Itzehoe in Schleswig-Holstein von 2022 habe Bestand, sagte die Vorsitzende Richterin des fünften BGH-Strafsenats, Gabriele Cirener, am Dienstag in Leipzig. Die Verurteilung der heute 99-jährigen Irmgard F. wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und zur versuchten Beihilfe zum Mord in fünf Fällen sei rechtskräftig.
Das Landgericht hatte die Frau Ende 2022 zu einer auf Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Weil sie zur Tatzeit 18 und 19 Jahre alt war, wurde sie nach Jugendstrafrecht verurteilt. Gegen das Urteil hatte sie Revision eingelegt. Diese wurde nun vom BGH verworfen.
»Nicht neutral«
Irmgard F. arbeitete von 1943 bis 1945 im KZ Stutthof dem Urteil zufolge als einzige Stenotypistin im Büro des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe (1919-1974). Sie habe dort den gesamten Schriftverkehr organisiert, bestätigte der BGH am Dienstag. Dem Landgericht Itzehoe seien keine Rechtsfehler unterlaufen. Die Verurteilte habe vertrauensvoll mit der Lagerleitung zusammengearbeitet, sie physisch und psychisch unterstützt. Sie habe zum inneren Kreis gehört und sei an einer Schnittstelle tätig gewesen. Ihre Tätigkeit sei nicht neutral gewesen, betonte der BGH weiter.
Vielmehr habe sie aus Solidarität mit den Haupttätern gehandelt. Dass sie mehr als zwei Jahre lang nichts von den Morden und den Zuständen im Lager wahrgenommen habe, sei auszuschließen. Zur Frage, ob eine Frau in so hohem Alter noch verurteilt werden sollte, sagte die Richterin: »Das Gesetz gibt eine klare Antwort: Mord verjährt nicht.« Dies gelte auch für Beihilfe zum Mord.
Im KZ Stutthof starben mehr als 60.000 Menschen. Das Lager war integraler Bestandteil der Vernichtung der europäischen Juden.
»Grenzen der Überprüfbarkeit«
Während der Zeit von Irmgard F. als Sekretärin sind in Stutthof laut BGH mindestens 9000 Menschen ums Leben gekommen. Die 99-Jährige erschien am Dienstag nicht zur Verkündung der Entscheidung des BGH. Im Prozess in Itzehoe hatte sie gesagt, es tue ihr leid, was alles geschehen sei. Sie bereue, dass sie damals in Stutthof gewesen sei.
Ihre Verteidiger hatten unter anderem moniert, dass nicht zweifelsfrei nachgewiesen sei, dass die Frau von den systematischen Tötungen im Lager gewusst habe. In Leipzig sagte ihr Verteidiger Wolf-Rüdiger Molkentin nach der Verkündung der Entscheidung, es sei ein Grundsatzurteil gefällt worden, dies sei positiv. Es gebe jedoch Grenzen der Überprüfbarkeit eines Urteils. So seien genauere Umstände, etwa der Befehle im KZ, nicht abschließend geklärt worden.
Einer der 23 Nebenkläger in dem aktuellen Verfahren, Abraham Koryski, erklärte in einem Statement, das dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt: »Das Lager Stutthof war während meiner Zeit ein monströses Vernichtungslager.« Niemand, der Augen, Nase und Ohren hatte, habe das ignorieren können. Dies gelte auch für Mitarbeitende in den Verwaltungsbüros.
Zentralratspräsident hätte sich Geständnis der Sekretärin gewünscht
»Ich halte das Urteil des Bundesgerichtshofs gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. für richtig«, erklärte Josef Schuster für den Zentralrat der Juden in Deutschland, dessen Präsident er ist. »Es geht nicht darum, sie für den Rest ihres Lebens hinter Gitter zu stecken. Es geht darum, dass sich eine Täterin für ihre Taten verantworten und Worte finden muss, für das, was geschehen ist und für das, woran sie beteiligt war.«
Als Sekretärin im KZ Stutthof sei Irmgard F. eine bewusste Gehilfin der nationalsozialistischen Mordmaschinerie gewesen. Daher sei sie für die Ermordung tausender Menschen verantwortlich. »Für Schoa-Überlebende ist es enorm wichtig, dass eine späte Form der Gerechtigkeit versucht wird. Umso schwerer wiegt das fehlende Schuldeingeständnis der Täterin«, so Schuster.
Der Zentralratspräsident fügte hinzu: »Es steht beispielhaft für die überwiegende Mehrheit der NS-Täter und Täterinnen, die unbehelligt ihr Leben fortführen konnten, ohne strafrechtliche Konsequenzen für ihre grausamen Verbrechen zu fürchten. Das Rechtssystem hat heute eine klare Botschaft gesendet: Auch fast 80 Jahre nach der Schoa darf kein Schlussstrich unter die NS-Verbrechen gezogen werden. Mord verjährt nicht - weder juristisch, noch moralisch.« epd/ja