Der frühere Außenminister Joschka Fischer zeigte sich »entsetzt«, der amtierende Chefdiplomat Guido Westerwelle »beschämt«. Wie soll man die Ergebnisse auch sonst kommentieren, die eine Gruppe unabhängiger Historiker über die Rolle des Auswärtigen Amtes in der NS-Diktatur zutage förderte? Aber was »entsetzt« uns eigentlich? Dass im Außenministerium der Nazis ziemlich viele Nazis gearbeitet haben? Dass die Banalität des Bösen zuweilen auch »in Frack und Nadelstreifen« daherkam, wie Frank-Walter Steinmeier, auch ein ehemaliger Außenminister, es bei der Präsentation der Studie formulierte?
Vollstrecker Es war sicher richtig, dass Fischer nach einer amtsinternen Auseinandersetzung um die Nachrufe für NS-belastete Diplomaten, die später in der Bundesrepublik Karriere gemacht haben, eine unabhängige Geschichtskommission auf den Plan gerufen hat. Nach dem jahrelangen Sichten Tausender Dokumente war das Ergebnis wenig überraschend – was nicht gegen die Arbeit der Historiker spricht. Eine Sensation wäre es gewesen, wenn die Forscher geheime Widerstandszellen im Diplomatischen Dienst ausgemacht hätten. Stattdessen wiesen sie präzise nach, was wir vorher nicht nur ahnten, sondern auch schon wussten: Im Ministerium des im Oktober 1946 als Kriegsverbrecher hingerichteten Joachim von Rib- bentrop war die Herrenmenschenideologie nicht nur zu Hause, viele Diplomaten betätigten sich beim Judenmord sogar als willige Vollstrecker. Dieselben Diplomaten machten nach dem Ende des Dritten Reiches oft Karriere im auswärtigen Dienst der jungen Bundesrepublik. Und: Auch sie haben dieses Land aufgebaut. Hier wird die Forschungsarbeit richtig interessant. Denn was für das Außenamt galt, wird wohl auch für die übrigen Bundes- und Landesministerien gegolten haben, die nach 1949 mit Beamten ausgestattet worden sind.
Aufklärer Der Verfassungsgeist der jungen Bundesrepublik war demokratisch, der Rahmen, in den uns das Grundgesetz seit über 60 Jahren einfasst, ist bemerkenswert stabil. Aber das Gründerpersonal war nicht ganz so verlässlich. Als der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer, ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, 1957 vom Aufenthaltsort Adolf Eichmanns erfuhr, dachte er keine Sekunde lang daran, deutsche Behörden oder gar die Botschaft in Buenos Aires zu informieren, wo ein Überlebender den Architekten der Schoa zufällig ausgemacht hatte. Bauer, der 1961 den ersten großen Auschwitz-Prozess als Ankläger initiierte, traute den Protagonisten der jungen Republik bei Eichmann nicht über den Weg und informierte israelische Kontaktleute – der Mossad übernahm den Fall. Als Aufklärer stand Bauer damals fast alleine da.
Der innere Frieden der Adenauer-Republik war mit Beschweigen, Vertuschung und Mythen erkauft worden. Das Märchen von der sauberen Wehrmacht und dem noblen Außenamt gehörten dazu. Dennoch machte Adenauer einen klaren politischen Schnitt. Wo Altnazis öffentlich auftraten, wurden sie gestellt, die in der NS-Tradition stehende Sozialistische Reichspartei bereits im Oktober 1952 vom Bundesverfassungsgericht verboten. Jedoch war selbst der konservative Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg in den 50er-Jahren noch eine Unperson.
Antizionismus Deshalb können wir in der Geschichte der Bundesrepublik nicht von nur einem Gründungsdatum sprechen. Und das ist unser Glück. Dass sie nun schon im siebten Jahrzehnt erfolgreich weiterläuft, ist vor allem ihren politischen Brüchen zu verdanken, die fast immer an die Auseinandersetzung mit der einen oder anderen deutschen Diktatur gekoppelt waren. Und: Es ist nicht das Jahr 1968 und das Aufbegehren der Studentenbewegung, das den ersten Bruch markiert. Viele junge Männer und Frauen der Außerparlamentarischen Opposition interessierten sich nur mäßig für die Verbrechen, in die ihre Elterngeneration verwickelt war. Dann schon eher für den Krieg in Vietnam. Und wenn es um das Judentum ging, weniger für die Schoa als vielmehr für die Solidarität mit militanten Palästinensern beim »Kampf gegen den Zionismus«.
Das zweite Gründungsdatum der Republik, nach der eigentlichen Staatsgründung 1949, war die Wahl des Widerstandskämpfers Willy Brandt zum Kanzler, der im Dezember 1970 mit seinem Kniefall am Warschauer Ghetto Wahrhaftigkeit im Umgang mit der Geschichte einklagte und sie zur Staatsräson erhob. Es sollte noch fast 20 Jahre dauern, bis diese Maxime für ganz Deutschland galt. So gesehen sind die »Enthüllungen« über die Geschichte des Auswärtigen Amtes zwar keine Sensation, schon gar keine historische Zäsur. Aber ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit. Weniger der des NS-Regimes als vielmehr der Geschichte jener Republik, in der wir leben.
Der Autor ist leitender Redakteur bei der »Welt«-Gruppe. Er hat mehrere Bücher zur Geschichte der DDR und der Bundesrepublik veröffentlicht.