Lange hatten sie geschwiegen. Viel zu lange. Doch jetzt, gut zwei Wochen nach dem Massaker von Hamas-Terroristen an mindestens 1400 israelischen Zivilisten (die genaue Zahl der Toten ist weiterhin unklar), war der Zeitpunkt gekommen. In Deutschland ansässige jüdische Kulturschaffende und Wissenschaftler haben ihre Stimme wiedergefunden. Und sie zum scharfen Protest erhoben.
Ihr Protest richtet sich gegen die Berliner Polizei. Die hatte in den letzten Tagen mehrfach propalästinensische Demonstranten untersagt. Illegal war das natürlich (die Verbote). »Repressionen« und »willkürliche Einschränkungen« seien das gewesen, beklagen die aktuell 110 Unterzeichner des in der »tageszeitung« veröffentlichten Offenen Briefs das Vorgehen der Polizei.
Eine »glaubwürdige Verteidigung« gebe es dafür nicht. Mehr noch: Die Begründung einer »unmittelbaren Gefahr« von »volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen« diene doch nur »dazu, legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken.«
Auch Rassismus spiele eine wichtige Rolle. Rassismus auf Seiten der Polizei, versteht sich. »Menschen mit Migrationshintergrund« würden »in ganz Deutschland ins Visier genommen und Zivilisten belästigt, verhaftet und verprügelt, oft unter den fadenscheinigsten Vorwänden«, beklagen die Aufrufenden.
SÜSSIGKEITEN Und der Tatort für die Missetaten der Sicherheitskräfte? Es ist der Berliner Bezirk Neukölln. Der dortige Prachtboulevard, die Sonnenallee, stand in den letzten Wochen erneut deutschlandweit in den Schlagzeilen, in erster Linie wegen zahlreicher Menschen, die dort ihrer Freude über Ereignisse in Nahost Ausdruck verliehen und Süßigkeiten verteilten.
Im Aufruf der jüdischen Künstler und Kulturschaffenden (Der zwischenzeitlich jüdische Publizist Fabian Wolff gehört bislang nicht dazu - Red.) wird das Ausmaß der Repression in Neukölln offengelegt: Die friedliebenden Sympathisanten der palästinensischen Sache wurden dort Opfer marodierender Polizeibanden. Selbst das Verteilen von Süßigkeiten nach Terrorangriffen auf Israel an Passanten sei mittlerweile verboten.
Nein, so steht es natürlich nicht in dem Text, da ist dem Glossenschreiber jetzt der Gaul durchgegangen. In Wahrheit wird das Geschehen auf der Sonnenallee so dargestellt: »Gepanzerte Lieferwagen und bewaffnete Bereitschaftspolizisten patrouillieren durch die Straßen und suchen nach spontanen Unterstützungsbekundungen für die Palästinenser oder nach Symbolen der palästinensischen Identität. Fußgänger werden auf dem Bürgersteig angerempelt und mit Pfefferspray attackiert. Kinder werden rücksichtslos angegriffen und verhaftet. Zu den Festgenommenen gehören bekannte syrische und palästinensische Aktivisten.«
Schlimmer noch: »In den Schulen sind palästinensische Flaggen und Keffiyeh verboten. Obwohl der Besitz dieser Gegenstände in der Öffentlichkeit gesetzlich erlaubt ist, führt er zu Polizeigewalt und Verhaftungen.«
Aber das ist noch nicht alles. Verdächtige werden von der Polizei einer »gezielten Verfolgung« ausgesetzt, wissen die Aufrufer. Warum das geschieht, wird auch erklärt. »Die Versammlungsverbote sollen ein Versuch sein, die deutsche Geschichte aufzuarbeiten, doch vielmehr besteht die Gefahr, dass man sie genau dadurch wiederholt.«
Mit anderen Worten: Die Berliner Polizei ist auf dem besten Weg, da zu landen, wo sie vor 90 Jahren schon einmal war. Nur ihre Opfer sind andere. Damals waren es die Juden, heute seien es die »Israelkritiker«. Gut, dass auch dies in dem Aufruf ausführlich erwähnt wird.
PHILOSEMITISMUS Scharf verurteilt wird dort auch das Schweigen der ganz offenkundig israelhörigen Eliten in Deutschland. »Diese Verstöße gegen die Bürgerrechte rufen bei den kulturellen Eliten in Deutschland kaum einen Aufschrei hervor. Große Kultureinrichtungen haben sich wie synchronisiert selbst zum Schweigen gebracht, indem sie Theaterstücke, die sich mit dem Konflikt befassen, abgesagt haben und Persönlichkeiten, die Israels Aktionen kritisch gegenüberstehen könnten – oder die einfach selbst Palästinenser sind –, das Rederecht entzogen wurde. Diese freiwillige Selbstzensur hat ein Klima der Angst, der Wut und des Schweigens geschaffen. All dies geschieht unter dem Vorwand, Juden zu schützen und den Staat Israel zu unterstützen.«
Stilsicher und wortgewaltig stellen sich die Unterzeichner des Aufrufs auf die richtige Seite der Geschichte. Und reden Klartext. »Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diesen Vorwand für rassistische Gewalt ab und bekunden unsere volle Solidarität mit unseren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbarn.«
Wer es jetzt noch nicht kapiert hat, wird trotzdem nicht beschimpft, sondern weiter sachlich aufgeklärt. Und auch die Motivation der Unterzeichnenden ist eine hehre. Sie wollten nicht in Angst leben in Deutschland, schreiben sie. Wer will das schon? Und sie nennen Ross und Reiter. »Was uns Angst macht, ist die in Deutschland vorherrschende Atmosphäre von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die Hand in Hand mit einem zwanghaften und paternalistischen Philo-Semitismus geht. Wir lehnen insbesondere die Gleichsetzung von Antisemitismus und jeglicher Kritik am Staat Israel ab.«
Man sollte den 110 dankbar sein, dass sie es endlich offen ausgesprochen haben: Es geht ein Gespenst um im Kulturbetrieb, das Gespenst des Philosemitismus! Die Liebe der Deutschen zu allem Jüdischen, sie ist wahrlich ein Problem.
Und wehe, jemand wagt es, der Erklärung Einseitigkeit zu attestieren. Nein, dieser Text ist von minutiöser Ausgewogenheit und von ähnlicher Schönheit wie der schiefe Turm von Pisa. Die Unterzeichnenden – unter ihnen finden sich über die Grenzen von Neukölln hinaus bekannte Namen wie Deborah Feldman, Yossi Bartal und Emily Dische-Becker – verurteilen die »schrecklichen Gewalttaten in Israel und Palästina in diesem Monat« nämlich auf das Nachhaltigste. Und auch die »antisemitischen Gewalttaten und Einschüchterungen«. Obwohl in ihrem Manifest zu Recht festgestellt wird, dass die Beweggründe »für diese nicht zu rechtfertigenden antisemitischen Straftaten und ihre Täter« (man beachte die erneute Verurteilung - Red.) bislang unbekannt geblieben sind. Was will man eigentlich noch verlangen?
VERURTEILUNG Und noch einen wichtigen Punkt gilt es festzuhalten: Für die unterzeichnenden Künstler und Wissenschaftler gibt es auch keinerlei Rechtfertigung »für vorsätzliche Angriffe auf Zivilisten durch die Hamas«. »Vorbehaltlos« werden die »terroristischen Angriffe auf Zivilisten in Israel« verurteilt. Jawohl, vorbehaltlos. Gleichwohl – und das ist das Wohltuende an diesem Text– wird auch hier auf Balance geachtet: »Mit gleicher Schärfe verurteilen wir die Tötung von Zivilisten in Gaza.«
Der Offene Brief der 110 Gerechten beweist es: Der Kulturbetrieb in Deutschland ist wieder auf Betriebstemperatur. Endlich, muss man hinzufügen, denn seit der documenta fifteen im letzten Jahr und dem dort von interessierter Seite (die Betreffenden wissen Bescheid! - Red.) inszenierten Antisemitismusskandal, der in Wahrheit eine gezielte Unterdrückung legitimer postkolonialer Kritik an Israel darstellte, war die Zahl der israelkritischen Aufrufe in deutschen Zeitungen auf ein Allzeittief gefallen. Die philosemitischen Eliten hatten zugeschlagen; Deutschland wurde international als Totalausfall in der Israelkritik wahrgenommen.
Damit hat es nun ein Ende. Ausgerechnet jüdische Intellektuelle in Deutschland wurden ihrer besonderen Verantwortung gerecht. Und ein Letztes: Man muss der Hamas, deren Taten es natürlich zu verurteilen gilt, in gewisser Weise dankbar sein. Denn die »militanten Kämpfer des palästinensischen Widerstands« haben etwas geschafft, was in der Kürze der Zeit keiner für möglich gehalten hätte: Deutschland ist wieder wer in seiner Paradedisziplin. Es lebe die »Israelkritik«! Gerade in diesen bewegten Zeiten!