Hamburg

Die letzten Täter

Akten der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg Foto: dpa

Als das Landeskriminalamt 2016 sein Haus durchsuchte, fing Bruno D. gleich an zu reden. Der Rentner mit vollem weißen Haar gestand, im KZ Stutthof bei Danzig als Wachmann tätig gewesen zu sein. Bei der Befragung durch den Staatsanwalt schilderte der heute 93-jährige Mann seine Zeit als Aufseher im KZ.

Rund 200 Seiten füllen die Vernehmungsprotokolle. Der ehemalige deutsche Soldat sprach über seine Kindheit und Jugend in der Nähe von Danzig. Dann wurde er zur Wehrmacht eingezogen, wegen eines angeblichen Herzklappenfehlers aber nur »garnisonsverwendungsfähig« gemustert. An die Front musste er nicht. Als Wehrmachtssoldat hat er außen am KZ Stutthof Wache geschoben. Dann wurde seine Einheit in den SS-Totenkopfsturmbann überführt.

LAGER Ab August 1944 verrichtete Bruno D. dann Wachdienste als SS-Schütze und begleitete Gefangene zu Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers. Überzeugter Nationalsozialist ist D. nie gewesen. Er betont, dass er sich auch von der Hitlerjugend ferngehalten habe. 1940 sei er dann Mitglied geworden – weil er es musste. Sein Vater gehörte der Zentrumspartei an.

Die Opfer hätten ihm leidgetan, sagt D. in der Vernehmung. Doch Tötungshandlungen habe er mit eigenen Augen nicht gesehen, doch er gibt zu, dass er von Morden wusste. Auch die Schreie aus der Gaskammer habe er gehört, zumindest sei das möglich gewesen. Unter Kameraden sprach man auch über die Hintergründe. Von »Judenvernichtung« sei die Rede gewesen.

75 Jahre später soll Bruno D. jetzt als Greis ab dem 17. Oktober vor Gericht stehen. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat ihn wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen angeklagt. Weil D. zur Tatzeit 17 und 18 Jahre alt war, findet der Prozess vor der Jugendstrafkammer statt. Ein 93-Jähriger vor der Jugendrichterin.

Abba Naor hat das KZ Stutthof überlebt. Seine Mutter und seinen kleinen Bruder hat er in Stutthof zum letzten Mal gesehen – sie wurden von dort nach Auschwitz gebracht und ermordet. Naor sieht die Prozesse gegen alte NS-Verbrecher kritisch. »Das hätte man vor 50 Jahren machen sollen«, sagt der 91-Jährige, der in Israel lebt. Das habe man nicht getan, weil man es nicht wollte. Die heutige Strafverfolgung von NS-Tätern hält er für reine Symbolik.

ZEITZEUGE Naor selbst setzt auf ein anderes Mittel: Er berichtet regelmäßig als Zeitzeuge vor Schülern in Bayern. »Das ist auch eine Warnung für die Zukunft, und der Gedanke ist, die Schüler sollen etwas lernen: nicht zu vergessen, was geschah, und zu erinnern an die, die nicht überlebt haben.«

Der Prozess gegen Bruno D. in Hamburg könnte zu den letzten gegen mutmaßliche NS-Verbrecher gehören. Zwar laufen derzeit bundesweit noch insgesamt 29 Strafverfahren, doch werden Anklagen und Gerichtsverfahren von Tag zu Tag unwahrscheinlicher. Neben der Anklage gegen Bruno D. in Hamburg liegt eine weitere Anklage gegen einen KZ-Aufseher aus Stutthof beim Landgericht Wuppertal vor. Ob ein Prozess gegen den 94-jährigen Harry S. stattfindet, ist noch unklar. Das Gericht hat über die Zulassung der Anklage noch nicht entschieden – »wegen der anhaltend hohen Belastung der Kammer mit vorrangig zu bearbeitenden Haftsachen«.

Noch wird gegen etwa
50 mutmaßliche
NS-Straftäter ermittelt.

In 27 anderen Fällen ermitteln die Staatsanwaltschaften noch – gegen insgesamt rund 50 Beschuldigte, von denen einige jedoch auch schon verstorben sein könnten. So laufen bei der Staatsanwaltschaft in Itzehoe in Schleswig-Holstein Ermittlungen gegen eine Frau, die 1943 bis 1945 im KZ Stutthof als Schreibkraft tätig gewesen sein soll. Auch hier lautet der Vorwurf auf Beihilfe zum Mord. Durch die Ermittlungen soll die konkrete Tätigkeit der Frau im KZ geklärt werden, wie ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagt. Dazu werden nicht nur alte Unterlagen ausgewertet, sondern auch Zeugen in den USA und Israel vernommen. Auch die Staatsanwaltschaft Lübeck ermittelt gegen eine Beschuldigte, die in Stutthof tätig war. Der Vorwurf lautet auf »Beihilfe zum Mord in einer noch zu ermittelnden Zahl von Fällen«, sagt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft, der von »ausgesprochen umfangreichen Ermittlungen« spricht.

Die meisten Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Mordhelfer aus der NS-Zeit laufen in Brandenburg und Thüringen. Die Strafverfolger im brandenburgischen Neuruppin sind für Taten in Sachsenhausen und Ravensbrück zuständig. Zwölf Verfahren gegen KZ-Aufseherinnen und -Aufseher sind hier anhängig. In die Zuständigkeit der Erfurter Ermittler fällt das KZ Buchenwald. Hier wird gegen sechs mutmaßliche Angehörige der Wachmannschaften ermittelt.

ERMITTLUNGEN Einzelne Verfahren gegen mutmaßliche NS-Täter sind noch in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern anhängig. Bei einigen Verfahren geht es um Massaker von SS-Einheiten in Frankreich. Andere Verfahren laufen auch gegen mutmaßliche Mitglieder von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst, die sich an Mordtaten in der heutigen Ukraine beteiligt haben sollen. In Hamburg wird noch gegen eine jetzt 97-jährige KZ-Aufseherin aus Bergen-Belsen ermittelt, da sie 1945 an einem Todesmarsch von KZ-Häftlingen beteiligt gewesen sein soll, bei dem 1400 Frauen ums Leben kamen.

Unermüdlich – nur sehr spät – suchen die Ermittler der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg nach noch lebenden Tätern. Es werden nur Vorermittlungen gegen mutmaßliche KZ-Wachleute und andere Verdächtige geführt. Hier versuchen die Ermittler um Behördenleiter Jens Rommel herauszufinden, welche Täter noch leben und inwiefern diese für ihre Taten noch belangt werden können. Derzeit stehen noch vier KZs im Fokus der Ludwigsburger Ermittler.

Die späte Aufarbeitung sei auch für Überlebende und ihre Angehörigen wichtig, sagt Rommel. Außerdem müssten die Geschehnisse damals »auch heute noch als Unrecht« bewertet und dargestellt werden. Die heutige Aufklärung von NS-Verbrechen könne dazu beitragen, »festzustellen, was geschehen ist, und die persönliche Verantwortung des Einzelnen in dem verbrecherischen System zu bestimmen«. Doch die Ermittler um Rommel arbeiten gegen die Zeit. Die Täter sind heute meist Mitte 90.

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