#lastseen

Die letzten Aufnahmen von Menschen kurz vor ihrem Tod

Deportation von Münchner Jüdinnen und Juden: Die kleine Judith ist unten auf dem Arm des Mannes, Ihre Mutter Gertrud Cahn steht links neben dem Mann. Foto: Stadtarchiv München, #last seen

Auf diesen Fotos sind Menschen das letzte Mal vor ihrem Tod zu sehen. Männer, Frauen und Kinder laufen mit Gepäck zum Sammelpunkt ihrer Deportation oder sind schon dort und warten auf die unheilvollen Dinge, die da kommen. Nicht immer wissen sie, dass sie fotografiert werden, denn manche Bilder wurden heimlich in einem Versteck aufgenommen, um die Verbrechen der Nazis zu dokumentieren.

Zu sehen sind hunderte solcher berührender Fotos im Online-Atlas des Projekts #lastseen, das im Oktober mit dem Grimme-Online-Award 2024 ausgezeichnet wurde. Der Name unterstreicht, dass die allermeisten Menschen auf den Bildern das letzte Mal zu sehen sind, bevor sie nach ihrer Deportation in NS-Lagern oder anderswo ermordet wurden.

Frau auf Foto wahrscheinlich identifiziert

Bisher sind Fotos mit Erläuterungen aus 36 Orten abrufbar, wie die Leiterin des Verbundprojekts, Alina Bothe, sagt. Derzeit reicht die Liste von A wie Asperg bis W wie Würzburg. Nun kommt vor dem 80. Jahrestag der Befreiung von Häftlingen aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau am 27. Januar eine neue Stadt hinzu: Fulda.

Die fünf Dokumente aus der hessischen Stadt sind ab Donnerstagabend online. Darauf sind bepackte Menschen, die im Schneetreiben vor Zügen warten oder sie besteigen, zu sehen. Vereinzelt tauchen Wachmänner auf. Eine Person auf diesen Fotos konnte höchstwahrscheinlich identifiziert werden, zu 100 Prozent gesichert ist das jedoch nicht, wie Lisa Paduch, wissenschaftliche Mitarbeiterin, erläutert.

Fotos in den USA aufgetaucht

Demnach handelt es sich wohl um Gisela Binheim. Den Angaben zufolge war sie Krankenschwester und stand in einer Deportationsliste vom 8. Dezember 1941. »Aus dieser Information leitet sich auch ihre Identifikation ab, denn sie trägt zwei Objekte bei sich, die mit einem roten Kreuz gekennzeichnet sind«, so Paduch.

Laut Eingangsliste des Konzentrationslagers Stutthof kam sie dort am 9. August 1944 nach Auflösung des Ghettos Riga an, wie es heißt. Vermutlich sei Binheim dort ermordet worden - »aber dafür gibt es - wie so häufig - keinen Beleg«, betont Paduch. Die Fuldaer Fotos wurden einst von Nazis gemacht und tauchten den Angaben zufolge Jahrzehnte später im Zusammenhang mit einem Interview in den USA auf.

Heimliche Aufnahmen unter hohem Risiko

Bekannt sei, dass 132 Personen aus Fulda auf der Liste für die Deportation gestanden hätten, sagt Bothe. Im Vergleich zu anderen Transporten hätten diesen »erstaunlich viele«, nämlich elf Menschen überlebt. Eine Aussage, die einmal mehr deutlich macht, wie monströs die Verbrechen der Nazis waren.

Auf allen 427 Fotos, die jetzt im Online-Atlas vorliegen, konnten Bothe zufolge bisher 271 Personen namentlich identifiziert werden. Zum Beispiel hätten Nutzerinnen und Nutzer Angehörige entdeckt. Immer häufiger reichten Menschen eigene Fotos zur Überprüfung ein. Bisher seien drei Serien aus Bremen, Leipzig und Breslau (Wroclaw) im Bestand, die aus jüdischer Perspektive, also heimlich und unter hohem Risiko, gemacht worden seien.

Nächste Veröffentlichung aus Emden

Und vereinzelt tauchten nach Einstellung von Fotos doch noch Unklarheiten auf. Wie etwa zu Regensburg, das momentan nicht über die Suchmaske abgerufen werden kann, weil verschiedene Auffassungen über das Gezeigte geklärt werden müssen, wie Bothe sagt. Demnächst sei die Veröffentlichung von Deportationsbildern aus Emden geplant - die 1942 sogar in der Zeitung publiziert worden seien.

Der Bildatlas enthält Fotos von Deportationen aus dem damaligen Reichsgebiet von 1938 bis 1945. Dabei handelt es sich um verfolgte Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma und Opfer der NS-Euthanasie. Das an der Freien Universität Berlin angesiedelte Verbundprojekt wird unter anderem von der Alfred-Landecker-Foundation gefördert.

Gegen Populismus

Der Schwerpunkt aller im Oktober 2024 mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichneten Projekte - wie dem Atlas - lag nach Worten der Jury »deutlich bei historischen Themen und ihrer Bedeutung in einer Zeit, in der Gesellschaft und Öffentlichkeit zunehmend von Populismus und menschenfeindlichen Tendenzen geprägt werden«.

Diesen Tendenzen will sich eine Gruppe Jugendlicher aus Fulda nicht hingeben. Sie waren mit der Projektgruppe »Jüdisches Leben in Fulda« und der städtischen Beauftragten für jüdisches Leben, Anja Listmann, an der Arbeit zu den Fuldaer Deportationsfotos beteiligt. Die Jugendlichen in der Gruppe bekommen durch ihr Wirken nach den Worten Listmanns nicht nur ein Bewusstsein für historische Zusammenhänge - auch werde ihre Empathie gestärkt.

#Lastseen ist hier erreichbar.

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