Schoa

»Die leichtere Aufgabe: Sterben«

Vor der Deportation: Kinder im Warschauer Ghetto Foto: dpa

Am 22. Juli 1942, einem regnerischen Mittwoch, werden die Gerüchte, die seit Tagen durch das Warschauer Ghetto laufen und die Menschen in Unruhe versetzen, zur Gewissheit. Am Vormittag betritt der SS-Sturmbannführer Hermann Höfle mit einigen Offizieren das Gebäude des Judenrats in der Grzybowskastraße. Alle Mitglieder des von Deutschen eingesetzten Gremiums müssen sich im Dienstzimmer des Vorsitzenden Adam Czerniaków einfinden.

Dessen Sekretär, der 22-jährige Marceli Reich, nimmt die »Bekanntmachung« auf, die Höfle diktiert und die noch am gleichen Tag im Ghetto plakatiert wird: »Auf Befehl der Deutschen Behörde werden alle jüdischen Personen, gleichgültig welchen Alters und Geschlechts, die in Warschau wohnen, nach dem Osten umgesiedelt.«

Ausgenommen von den Deportationen bleiben allein Mitarbeiter der Ghettoverwaltung mitsamt ihren Angehörigen und die Arbeiter in den kriegswichtigen Betrieben. »Bis heute um 4 Uhr müssen 6.000 Menschen bereitgestellt werden. Und so wird es jeden Tag sein«, schreibt der verzweifelte Czerniaków in sein Tagebuch.

hungertod Die Liquidation des »Jüdischen Wohnbezirks«, wie die deutschen Besatzer das ummauerte Viertel für mehr als 400.000 Bewohner zynisch nennen, trifft die meisten Warschauer Juden unvorbereitet. Nach dem schrecklichen Winter, in dem Monat für Monat mehr als 5.000 Menschen verhungerten oder an Typhus verstarben, hatte sich die Lage im Ghetto beruhigt.

In den Betrieben, die von der deutschen Ghettoverwaltung in Zusammenarbeit mit dem Judenrat im Ghetto angesiedelt wurden, fanden Tausende Beschäftigung. Die Zwangsarbeit für die deutschen Firmen, die für die Wehrmacht Textil- und Lederwaren produzieren, verspricht Sicherheit vor weiterer Willkür. Dabei hat die Vernichtung längst begonnen. Mit seinem »Einsatzstab Aktion Reinhard« – das war der Tarnname für den Mord an den polnischen Juden –, mit Polizeiformationen und »fremdvölkischen Hilfswilligen« treibt Höfle seit dem Frühjahr 1942 die Juden in die Deportationszüge. Sie enden in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor.

Die Nachricht von der Auslöschung ganzer Gemeinden erreicht auch die Menschen im abgeriegelten Warschauer Ghetto. »Es ist in den herrschenden Kreisen der Nazis dekretiert und beschlossen worden, die Juden des Generalgouvernements systematisch zu vernichten.

tagebuch Es gibt zu diesem Zweck sogar eine besondere militärische Einheit, die je nach den Bedürfnissen und Erfordernissen des Augenblicks die Runde durch sämtliche polnische Städte macht«, notiert Chaim Kaplan am 10. Juli in sein Tagebuch. Dass auch die größte jüdische Gemeinde Europas vor dem Ende steht, vermag sich der 62-jährige Schulleiter aber nicht vorzustellen: »Man kann nicht Zehntausende von Arbeitern und Handwerkern töten, die in verschiedenen, von der deutschen Armee benötigten Berufen ihren Mann stehen.«

Neun Tage später befiehlt Heinrich Himmler bei einem Besuch in Lublin seinem regionalen SS-Statthalter das für Kaplan Undenkbare: »Ich ordne an, dass die Umsiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements bis 31. Dezember 1942 durchgeführt und beendet ist. Mit dem 31. Dezember 1942 dürfen sich keinerlei Personen jüdischer Herkunft mehr im Generalgouvernement aufhalten.«

Noch am gleichen Tag machen im Ghetto Gerüchte von baldigen Deportationen die Runde: »Jeder ist von einer Panik ergriffen. Wird auch er deportiert werden?«, fragt sich Kaplan. Czerniaków, der seit dem Einmarsch der Wehrmacht im September 1939 der jüdischen Gemeinde vorsteht, ersucht von der örtlichen Gestapo und Zivilverwaltung Aufklärung, doch die bezeichnen die Gerüchte von der bevorstehenden Aussiedlung als »Quatsch und Unsinn«.

Der Tag, an dem Höfle die Ghettoliquidation anordnet, ist der Geburtstag des berühmten Schriftstellers und Pädagogen Janusz Korczak, der ein Waisenhaus in der Siennastraße leitet. Am Vorabend seines 63. oder 64. Geburtstags – sein genaues Geburtsjahr kennt er nicht – zieht er eine düstere Bilanz: »Es ist schwer, geboren zu werden und leben zu lernen. Mir bleibt die viel leichtere Aufgabe: zu sterben.«

Für den Schriftsteller Jehoschua Perle ist der 22. Juli 1942 »der schrecklichste Tag in der Geschichte nicht nur des polnischen, sondern des Judentums in der ganzen Welt«. In seinem Bericht, der den Titel »Die Zerstörung Warschaus« trägt, hält er die Schrecken der Deportationen fest, kritisiert aber auch scharf den Judenrat und den Jüdischen Ordnungsdiensts als Handlanger der Vernichtung. Die ersten Opfer sind die Bettler, Kranken, Alten und Kinder.

Aus dem Gefängnis, aus den Spitälern, Altenheimen und Waisenhäusern treiben die mit Knüppeln bewaffneten Männer des Ordnungsdienstes die Menschen zum »Umschlagplatz« an der Nordgrenze des Ghettos. In dem nahen Danziger Bahnhof stehen die Güterzüge bereit, die ins 60 Kilometer entfernte Treblinka fahren. Mehr als 6.000 Menschen werden am ersten Tag in die Vernichtungsstätte verschleppt.

evakuierung Im Ghetto drängen die Menschen zu den »shops« genannten Betrieben. Um einen Ausweis zu erhalten, der vor der Deportation schützt, bieten sie nicht nur ihre Arbeitskraft und Geld an. »Der bisher bei den im Judenviertel liegenden Firmen herrschende Maschinenmangel konnte im Zusammenhang mit der Evakuierungsaktion behoben werden, da die Juden die Maschinen freiwillig anboten«, berichtet das Rüstungskommando der Wehrmacht in Warschau. »Eine Nähmaschine kann das Leben retten«, weiß Czerniaków. Am zweiten Tag erhöhen die Deutschen die Zahl der zu Deportierenden auf 10.000. Um die Quote zu erfüllen, verlangt der »Einsatzstab Reinhard« die Räumung von weiteren Kinderheimen.

Damit ist für Czerniaków das Maß voll. Mehr als zweieinhalb Jahre lang bemühte sich der Ingenieur, der in Dresden studiert hatte, darum, durch Konzilianz und Kompromisse gegenüber den Besatzern die Situation für die Ghettobewohner erträglicher zu machen. Am 23. Juli begeht er in seinem Dienstzimmer Selbstmord: »Betrachtet das nicht als einen Akt der Feigheit oder der Flucht. Ich bin machtlos, mir bricht das Herz vor Trauer und Mitleid, länger kann ich das nicht ertragen. Meine Tat wird alle die Wahrheit erkennen lassen und vielleicht auf den rechten Weg des Handelns bringen«, schreibt Czerniaków in seinem Abschiedsbrief.

»Es gibt Menschen, die sich die Unsterblichkeit in einer einzigen Stunde verdienen. Der Präsident Czerniaków verdiente sich seine Unsterblichkeit in einem einzigen Augenblick«, kommentiert Kaplan die Nachricht vom Freitod des Vorsitzenden des Judenrats, den er für seine nachgiebige Haltung gegenüber den Deutschen zuvor heftig kritisiert hatte. Doch nicht alle attestieren ihm diese Größe. Auch nach dem Tod wirft ihm Perle Feigheit und mangelnden Widerstandswillen vor.

umschlagplatz Mit Czerniakóws Selbstmord wird der Judenrat praktisch bedeutungslos. Weil nur wenige den Versicherungen der Deutschen von einer »Ansiedlung im Osten« Glauben schenken und ihren Anordnungen folgen, durchkämmt der Jüdische Ordnungsdienst ganze Häuserblocks, um die Vorgaben für die Deportation zu erfüllen.

Wer keine Arbeitspapiere vorweisen kann, Beziehungen oder Geld hat, wird zum »Umschlagplatz« getrieben. Um die Menschen zur Aussiedlung zu bewegen, verspricht der Ordnungsdienst drei Kilogramm Brot und ein Kilogramm Marmelade für jeden, der sich freiwillig meldet. Als die Zahl der Deportierten Ende Juli dennoch zurückgeht, greifen Höfles Männer ein. Mit ihren Hilfskräften räumen sie nach und nach ganze Straßenzüge.

»Sie nehmen jeden, der ihnen über den Weg läuft, jene, die im Sonntagsstaat sind, und jene, die in Lumpen gehen – alle, alle werden sie von den Waggons verschluckt. Sie beachten nicht einmal die Ausweise derer, die für die deutschen Firmen arbeiten, und die Ausweise sollten doch einen Schutz bedeuten«, schreibt Kaplan. »Das Ghetto hat sich in ein Inferno verwandelt. Jeder steht nur einen Schritt vor der Deportation; die Menschen werden in den Straßen wie Tiere im Wald gejagt.« Aus Angst vor den Deportationen verlassen viele Arbeiter die Fabriken nicht mehr. Die Straßen des Ghettos, in dem auf einem Quadratkilometer zeitweise mehr als 100.000 Menschen zusammengepfercht waren, sind leer.

registrierung Anfang September werden alle Ghettobewohner aufgefordert, sich rund um die Niskastraße zur Registrierung einzufinden. Wer der Anweisung nicht folgt, wird erschossen. Fast 100.000 Menschen kommen zur Erfassung und werden unweit des »Umschlagplatzes« eingekesselt.

Doch nur ein Drittel von ihnen erhält die begehrten neuen Ausweise der »shops« oder des immer weiter verkleinerten Judenrats. Die anderen werden nach Treblinka verschleppt. Die von Gewaltorgien begleitete Registrierung dauert fast eine Woche. Danach werden die Deportationen eingestellt – ein Tag nach Jom Kippur. Die vorerst letzten Opfer sind die Männer des Jüdischen Ordnungsdienstes und ihre Angehörigen.

Innerhalb von zwei Monaten deportierte Höfles Stab und seine Helfer mindestens 241.000, vielleicht sogar 300.000 Menschen aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka. Mehr als 10.000 wurden bei der »Aussiedlung« erschossen. Janusz Korczak folgt am 6. August den Kindern seines Waisenhauses zum »Umschlagplatz«. Chaim Kaplans Aufzeichnungen enden am 4. August mit dem Eintrag: »Wenn mein Leben endet – was wird aus meinem Tagebuch werden?«

verteidigung Das verkleinerte »Restghetto« ist zu einem Arbeitslager unter Aufsicht der SS geworden. Für die verbliebenen 60.000 Juden, viele davon versteckt ohne Ausweise, bedeutet das Ende der Deportationen nur eine Atempause. Jehoschua Perle nutzt sie, um das Geschehene aufzuschreiben. Sein Bericht, der heute als Teil des Ringelblum-Archivs in Warschau liegt, ist eine Klageschrift voll Bitterkeit und Zorn.

»Wie hätte sich die größte jüdische Gemeinde in Europa verteidigen können? Wir hätten unsere Häuser verlassen und unsere Straßen, die jüdischen und nichtjüdischen, mit Schreien, mit Äxten und Steinen verteidigen müssen. Und wenn man zehntausend, zwanzigtausend erschossen hätte, dreimal hunderttausend Menschen hätten sie nicht erschießen können. Wir wären ehrenvoll gestorben.«

Perles Hoffnungen auf einen Akt des Widerstands, der zugleich ein Symbol nicht nur an die jüdische Welt sein soll, erfüllen sich im Januar 1943, als die Deutschen bei Wiederaufnahme der Deportationen aus dem Warschauer Ghetto auf Gegenwehr stoßen.

Hannover

Elisa Klapheck: Zu viel Rede von Antisemitismus, zu wenig von Juden

Jüdische Tradition gehöre zur Grundlage moderner Demokratie, sagt die Rabbinerin

 07.11.2024

Resolution gegen Antisemitismus

Ein Lob dem Bundestag

Das Parlament hat der massiven Kritik am Entschließungsantrag widerstanden. Gut so, findet unser Redakteur

von Michael Thaidigsmann  07.11.2024

Champions League

Dieses Banner ist für die UEFA kein Problem

Beim Spiel Paris Saint-Germain gegen Atletico Madrid forderten PSG-Fans die Vernichtung Israels

 07.11.2024

Wahlausgang USA

So reagieren jüdische Organisationen und Prominente auf Trumps Sieg

Die Reaktionen reichen von Freude über Neutralität bis hin zu Resignation

von Imanuel Marcus  07.11.2024

Berlin

Özoğuz entschuldigt sich im Plenum für Gaza-Post

Doch die Kritik reißt nicht ab

 07.11.2024

Berlin

Was es nun in Deutschland braucht

Ein Gastbeitrag von Zentralratspräsident Josef Schuster zum Aus der Ampel-Koalition

 07.11.2024

Ukraine

Was hinter Trumps 24-Stunden-Frieden steckt

Der Chefredakteur der Kyiver jüdischen Zeitung »Hadashot« kommentiert Trumps Pläne für die Beendigung des Krieges mit Russland

von Michael Gold  07.11.2024

Bundestag

Resolution gegen Antisemitismus angenommen

Der interfraktionelle Antrag für den Schutz jüdischen Lebens hat eine Mehrheit gefunden. Am Donnerstagmorgen wurde darüber im Bundestag debattiert

von Joshua Schultheis  07.11.2024 Aktualisiert

9. November

Juden zählen nicht

Was eine jüdische Mutter, Lehrerin und Studentin im deutschen Bildungssystem erlebt

von Lisa Scheremet  07.11.2024