Herr Rabbiner, die Situation in der Ukraine ist in den vergangenen Tagen weiter eskaliert. Inwieweit wirkt sich die Krise auf das Leben Ihrer Gemeinde aus?
Die Lage ist dramatisch. Infolge der Unruhen in Donezk und Umgebung ist das wirtschaftliche Leben vollkommen zusammengebrochen. Wie alle Bürger leiden darunter auch unsere Gemeindemitglieder. Die meisten erhalten schon seit einiger Zeit nicht mehr ihren Lohn oder ihre Rente. Das macht uns als Gemeinde sehr zu schaffen, weil wir natürlich helfen wollen, aber nicht immer können.
Wie groß ist die Angst, dass die militärischen Auseinandersetzungen im nahen Slawjansk und Lugansk auch auf Donezk überschwappen?
Wir befürchten, dass auch unsere Stadt am Rande eines Bürgerkrieges stehen könnte. Es gab bereits mehrere blutige Übergriffe von prorussischen Aktivisten auf Kiewtreue Demonstranten. Separatisten haben einen TV-Sender in der Stadt übernommen, öffentliche Gebäude wurden besetzt. Hier steht alles unter dem starken Eindruck der Krise.
Immer mehr ukrainische Juden verlassen wegen der Ausschreitungen das Land und machen Alija. Haben Juden in der Ukraine eine Zukunft?
Definitiv. Die wirtschaftliche Situation wird wieder besser werden, sobald wir diese schwere politische Zeit hinter uns gelassen haben werden. Und was das Thema Antisemitismus angeht: Sowohl in der Ukraine als auch in Russland ist der Judenhass geringer als etwa in Frankreich. Kein Jude muss die Ukraine aus Angst vor antisemitischen Unruhen verlassen.
Auf Charkiws jüdischen Bürgermeister wurde am Montag geschossen. Unbekannte verteilten neben Ihrer Gemeinde Flugblätter, auf denen zur »Judenzählung« aufgerufen wurde. Synagogen wurden attackiert.
Der Antisemitismus ist gestiegen, das stimmt. Meiner Ansicht nach handelt es sich bei den Übergriffen aber um zeitweilige politische Provokationen. Sowohl Putin als auch Kiew instrumentalisieren den Judenhass für ihre Zwecke. Das macht die Attacken natürlich nicht besser. Sobald die allgemeine Lage sich wieder beruhigt hat, werden jedoch auch diese Anfeindungen aufhören.
Demnächst soll über den Status der Ostukraine abgestimmt werden. Fühlt die jüdische Gemeinschaft sich der Ukraine oder eher Russland zugehörig?
Soweit ich das überblicken kann, haben die bewaffneten Separatisten, zumindest in Donezk, keinen großen Rückhalt in der Bevölkerung – weder bei jüdischen noch bei nichtjüdischen Bürgern.
Welcher Seite bringen Sie persönlich mehr Sympathie entgegen?
Ich bin Oberrabbiner, in politische Fragen mische ich mich nicht ein. Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, mich über Wahlen zu äußern. Es ist meine Pflicht, gute Taten zu vollbringen, auf das Beste zu hoffen und auf Gott zu vertrauen.
Mit dem Oberrabbiner von Donezk sprach Philipp Peyman Engel.