Woher wussten Sie als junger Koordinator, wer ein guter, verlässlicher Agent werden könnte?
Jaakov Peri: Du wendest an, was du in deiner begrenzten Praxis und den Schulungen gelernt hast. Du bekommst ein Büro bei der Militärverwaltung in Nablus und beginnst mit der Basisarbeit. Dir wird ein Territorium zugewiesen, das du Dorf für Dorf, Berg für Berg und Weg für Weg erkundest. Du fährst durchs Gelände und befragst Leute, die sich mit ihren Anliegen an die Militärverwaltung gewandt haben. Du trinkst mit ihnen Tee und sagst: Erzähl mir von deinem Dorf. Wie viele Einwohner hat es? Welche Großfamilien und Institutionen gibt es? Wie ist ihre politische Haltung?
Avi Dichter: Dabei lernt man den Lebensalltag der Menschen kennen und registriert alles, was vom üblichen Schema abweicht. Erinnerst du dich an den Anschlag im Restaurant Maxim? Die Attentäterin war 29 Jahre alt, ledig und Rechtsanwältin – in der Wahrnehmung der Einwohner von Dschenin fast eine Hure. Solche Außenseiter spürt man auf und versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen. Man findet Hunderte, wenn man gute Basisarbeit leistet. Oft erhält man nur Bruchteile von Informationen und muss rasch kombinieren, um die operativen Kräfte rechtzeitig in Kenntnis zu setzen.
Ein Vorteil des Schin Bet sind die kurzen Wege. Beispielsweise erfährt man, dass jemand, der immer nachlässige Kleidung und einen Vollbart trug, sich plötzlich wie ein Filmstar aufputzt. Wenn eine Anschlagswelle durchs Land rollt, ist das ein ernst zu nehmendes Zeichen. Das heißt nicht, dass der Betreffende auf jeden Fall ein Selbstmordattentäter ist, aber man muss ihn beobachten. Wenn sich dann herausstellt, dass er nur heiraten will, ist das der Grund für den Besuch beim Friseur. Verhält er sich aber weiterhin verdächtig, hat man einen Anknüpfungspunkt. Man kann seinen Namen den Soldaten und Soldatinnen an den Straßensperren mitteilen und ein Bewegungsprofil erstellen. Oder man setzt jemanden auf ihn an, um herauszufinden, was mit ihm los ist. Wenn er sich mit einem Sympathisanten der Hamas trifft, ist ohnehin alles klar. Aber das ist nur ein Beispiel. Es kann auch sein, dass ein Anhalter von niemandem mitgenommen wird, und plötzlich hält ein Fahrzeug, und er steigt ein. Oder man sieht jemanden im Restaurant, der normalerweise zu Hause isst. Wenn man wachsam ist, fallen einem ständig solche Abweichungen auf.
Juval Diskin: Man hat es mit einer ganzen Bevölkerung zu tun, kann aber nicht auf jeden Agenten ansetzen. Nach einer klassischen Methode teilt man das Gelände in Sektoren und versucht herauszufinden, wie man am besten Zugang zu den Bewohnern jedes einzelnen Sektors gewinnt. Man beobachtet die Leute und entscheidet, wo es strategisch sinnvoll ist, einen Agenten zu platzieren. Diese Methode wurde inzwischen verfeinert und mit zielorientiertem Handeln verknüpft. Das Ziel kann die Hamas oder der Islamische Dschihad sein. Man hat ein Ziel an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Sektor, und die Aufgabe besteht darin, zum Objekt vorzudringen, indem man einen Agenten einschleust oder eine Person aus dem Innern des Objektes für die eigenen Zwecke gewinnt.
Jaakov Peri: Natürlich gehst du nicht durch die Straßen und rufst: »Leute, wer ist für uns, und wer ist gegen uns?« Sondern du nimmst dir ein Dorf oder eine Stadt vor und analysierst jede Straße, jedes Haus, jeden Bewohner. Wenn dir jemand geeignet erscheint, erkundigst du dich über ihn, bis du sicher bist, dass er der Richtige ist und seine Stellung und seine Fähigkeiten dich dem Ziel näherbringen.
Was ist die Motivation der Agenten?
Jaakov Peri: Es gibt unterschiedliche Typen. Vor allem bei den Freiwilligen ist Vorsicht geboten, da sie oft eigene Interessen verfolgen oder vom Zielobjekt geschickt werden. Doch auch darunter sind gute Leute, sowohl hier als auch im Ausland. Sie melden sich und erklären: Das ist die Information, die ich liefern kann, und das die Summe, die ich für diesen Dienst fordere. Du prüfst das, und manchmal passt es, und es kommt zur Zusammenarbeit.
Der Trick im Umgang mit Quellen liegt darin, die Informationen, die sie liefern, mittels anderer Quellen zu verifizieren. Zu manchen Zeiten überwachte der Geheimdienst Zehntausende, doch das führt zu nichts. Um treffsicher zu agieren, muss man dafür sorgen, dass eine Information, die du von X erhältst, durch einen anderen Informanten abgesichert ist. Es ist wichtig nachzuvollziehen, woher die Information stammt. Wo hat dein Agent sie her? Von einer Frau? Von der Straße? Von einem Mitglied der Bande, die du fassen willst? Gehört er der Bande vielleicht selbst an?
Es gibt ganze Bücher darüber. Man studiert sie und stellt seine Methode darauf ein, doch am wichtigsten ist die praktische Erfahrung. Du versuchst, deine Informanten auf die Personen zu lenken, von denen du wissen willst, was sie getan, wo sie sich getroffen und was sie gesagt haben. Später schickst du das gesammelte Material mit deinen Einschätzungen und Empfehlungen ans Backoffice, das meist auf Bezirksebene angesiedelt ist. Dort wird der Stoff gesichtet. Es folgen Anweisungen, Fragen und Erklärungen. So schließt sich der Kreis.
Bevor es zu Festnahmen kommt, werden die Leute der operativen Ebene aktiv. Sie hören ab, beschatten und fotografieren. Danach bestimmt der Kommandant, wer festgenommen wird und wie die Festnahme erfolgen soll. Involviert sind die Streitkräfte, die Polizei, die Grenzwache, die zivile Antiterroreinheit und die städtischen Antiterroreinheiten vom »Duvdevan«. Meist leiten der Koordinator und der Kommandant die mit dem Fall befasste Einheit gemeinsam.
Die Gefangenen werden an die Ermittlungsabteilung des Schin Bet überstellt, der die Untersuchungen und Verhöre vornimmt, um den ganzen Teppich aufzurollen. Dann werden auch die Waffen- und Munitionslager der Gefangenen ausgehoben, weitere Personen festgenommen und jede Menge Berichte geschrieben, die im Backoffice und den Ermittlungsabteilungen zusammengeführt werden. So entsteht ein Gesamtbild der terroristischen Aktivität.
Wir sind ein riesiges System der Datenbeschaffung, eine Informationsfabrik, in der man sich leicht verlieren kann. Unsere Arbeit ist nicht hermetisch und folgt keinen mathematischen Regeln. Man muss nicht bloß die Informationen, sondern auch die eigene Wahrnehmung und Urteilskraft ständig infrage stellen. Je mehr Personen man rekrutiert, und je öfter sie einen enttäuschen, je intensiver man sich mit seinen Kollegen austauscht und je genauer man die gewonnenen Informationen liest, umso treffender sind die Schlussfolgerungen und umso größer der Erfolg. Unsere Arbeit ist Kunst: die Kunst, Kontakte zu knüpfen, Vertrauen aufzubauen und Menschen zu Verrätern zu machen – an ihrem Volk, ihren Freunden, ihrer Familie.
Wie bringt man jemanden dazu, all das zu verraten?
Avi Dichter: Die Menschen haben Schwächen, die man ausnutzen kann. Im Libanon gab es einen Imam, der uns zu einem großen Waffenlager führen konnte. Aber er blieb hart, und es bestand keine Aussicht, dass er freiwillig redete. Ein Informant berichtete uns, dass dieser Imam ein Versteck mit pornografischen Schriften habe, und der Ermittler, ein außergewöhnlicher Bursche, der später zum Abteilungsleiter befördert wurde, nahm eine gründliche Hausdurchsuchung vor und hob den Schatz. Das beeinflusste den Verlauf der Ermittlungen entscheidend. Man setzte den Imam in einen Hubschrauber und flog mit ihm über das Gebiet, in dem sich das Waffenlager befinden sollte, doch der Imam wollte nicht reden. Also ziehst du ein Pornoheft nach dem anderen hervor, zuletzt die mit den heftigsten Bildern, und plötzlich redet der große Imam und erweist dir den kleinen Dienst, um den du gebeten hast.
Jaakov Peri: Man muss den Hebel finden, der ihn veranlasst, die Wahrheit zu sagen. Solch ein Hebel kann dauerhaft oder nur einmal wirken. Bei der Militärverwaltung meldeten sich viele Araber, die für sich oder ihre Familien um medizinische Behandlung in einem israelischen Krankenhaus baten. Das sind Leute, die ein Motiv haben, das aber nur kurzfristig trägt.
Avi Dichter: Am angenehmsten ist es, auf Geldbasis zusammenzuarbeiten. Es gibt eine Redensart: Ein Informant, der kein Geld will, will Gold. Gold im Sinne von Vergünstigungen, die du organisieren musst. So wollten wir einem Informanten, der Außergewöhnliches für uns geleistet hat, einen Bonus zahlen, aber er weigerte sich und wollte einen Führerschein. Da er in Gaza schon seit vielen Jahren Auto fuhr, bereitete ihm die praktische Prüfung keine Schwierigkeit. Das Problem war der theoretische Teil, denn der Kerl konnte weder lesen noch schreiben.
Ich bestellte einen Prüfer, der auf solche Fälle spezialisiert war, und der fragte ihn Verkehrszeichen ab. Nach der Prüfung rief mich der zuständige Offizier an und teilte mit, mein Schützling sei durchgefallen. »Wie ist das möglich?«, fragte ich, und er sagte: »Der Prüfer wollte es ihm leicht machen. Er fragte: Das Schild zeigt eine Spur, die immer schmaler wird – was bedeutet das? Der Araber antwortete: Das bedeutet, dass die Zukunft noch fern ist. Und beim Kurvenschild meinte er, es warne vor Schlangen. All das hat der Prüfer hingenommen, aber seine Geduld war zu Ende, als dein Mann erklärte, das rote Stoppschild mit der weißen Hand bedeute: Achtung Tramper.«
Ein schwieriger Fall war eine Aktivistin einer arabischen Terrororganisation. Wir wollten sie unbedingt als Informantin gewinnen, da eine Frau viele Dinge herausfinden kann, an die wir sonst nicht herankommen. Bis wir sie überzeugt hatten, bedurfte es diverser Sondierungen und Treffen. Bei jedem Gespräch baut man eine weitere Stufe des Vertrauens auf. Sie hatte ein persönliches Problem, bei dessen Lösung wir helfen sollten. Man geht darauf ein und zieht sie so auf seine Seite.
Ich erinnere mich an das Treffen, bei dem es endlich konkret wurde. Wir erörterten Telefonnummern und andere Kontaktwege. Nach vier Stunden stand sie auf, schaute mich an, räusperte sich und sagte: »Aber setz mich nie wieder vor solch ein Scheusal.« Ich schaute mich um und sah ein Skelett wie im Biologieunterricht. Ich hatte es beim Betreten des Raumes nicht wahrgenommen und versuchte, mir vorzustellen, was die Araberin dachte und wie der makabre Gast unsere Verhandlungen beeinflusst hatte.
Avi Dichter, Juval Diskin und Jaakov Peri sind frühere Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth. Jaakov Peri leitete die Organisation von 1988 bis 1995 während der ersten Intifada. Avi Dichter stand von 2000 bis 2005 an der Spitze des Dienstes, gefolgt von Juval Diskin, der bis 2011 amtierte.
Gespräch ist ein Vorabdruck aus dem Buch »The Gatekeepers« von Dror Moreh, das am 9. Februar bei Kiepenheuer & Witsch erscheint. Dort berichten sechs frühere Schin-Beth-Leiter aus der Arbeit ihrer Organisation. Das Buch basiert auf Morehs gleichnamiger, 2012 für einen Oscar nominierter Dokumentation und enthält eine Fülle von Material, die dort nicht verwendet werden konnte.
»The Gatekeepers Aus dem Inneren des israelischen Geheimdienstes.«. Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch, Helene Seidler und Stefan Siebers. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 480 S., 22,99 €