Diskussion

»Die kommenden vier Jahre sind entscheidend«

Bei »Tachles Pur« diskutierten Dinah Riese, Jan Philipp Burgard, Stefanie Witte und Tobias Rapp. Moderiert wurde das Gespräch von Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen Foto: Marco Limberg

Der Titel ist bereits Programm. »Tachles Pur – Der Talk zur Bundestagswahl 2025«, lautet er. »Das ist nicht nur ein griffiger Name, das soll auch der Anspruch sein, an diese Veranstaltung heute, aber vor allem an die Politik«, wie Josef Schuster betont. »Viel zu häufig erleben wir Taktierereien, offene Hintertüren und schwammige Aussagen, die am Ende alles sind, nur nicht verbindlich und deutlich – Tachles eben«, so der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Außerdem ist es die erste Bundestagswahl seit dem 7. Oktober 2023. Grund genug also, die Positionen der demokratischen Parteien zu Themen, die die jüdische Gemeinschaft beschäftigen, einmal genauer unter die Lupe zu nehmen – schließlich ist jüdisches Leben derzeit so stark bedroht wie seit Langem nicht mehr, auch hierzulande.

Will »schonungslose Analysen«: Zentralratspräsident Josef SchusterFoto: Marco Limberg

Da ist zum einen der altbekannte Antisemitismus von rechts außen, der in jüngster Zeit durch islamistisch-migrantische sowie weitere Varianten des Judenhasses an Dynamik hinzugewonnen hat. »Diese Gesellschaft hat ein Potenzial an Radikalismus gezeigt, das genauso ins Rechtsextreme geht, ins Linksextreme und damit unweigerlich auch die Mitte unserer Gesellschaft erreicht«, so Schuster weiter. »Wir haben uns dazu keine Parteifunktionäre eingeladen, denn wir wollen schonungslose Analysen.«

Dafür hat der Zentralrat eigens das Format »Tachles Pur« ins Leben gerufen und vier Hauptstadtjournalisten eingeladen.

Gesellschaft so polarisiert wie schon lange nicht mehr

Wie dramatisch die Situation gerade wirklich ist, davon konnte man sich am Montagabend dank der Gesprächsrunde dann ein eigenes Bild machen. »Seit über 20 Jahren hat es nicht mehr solch ein aufgeheiztes Klima gegeben, selten war die Gesellschaft so polarisiert wie jetzt«, brachte Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdische Allgemeinen und zugleich Moderator des Polit-Talks, die Stimmungen in Deutschland auf den Punkt. Das mache sich vor allem beim Thema Migration bemerkbar.

Auf der einen Seite stehe die CDU mit ihrem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, der betont, dass er für einen Neuansatz in dieser Frage steht, auf der anderen eine SPD sowie die Grünen, die allenfalls zu Minimalkompromissen bereit seien.

Unterdessen kämpfe die FDP vor allem mit der Fünf-Prozent-Hürde. Und über allem schwebt die AfD als »lachender Dritter« wie ein Damoklesschwert über den demokratischen Parteien und scheint Nutznießer dieses Streits zu sein.

»Die Stimmung ist in der Tat sehr gereizt«, bestätigt gleichfalls Dinah Riese, Leiterin des Inlandsressorts bei der Tageszeitung »taz«. »Deshalb wirkt Bundeskanzler Olaf Scholz, wie in dem TV-Duell mit Friedrich Merz am Sonntagabend, auch so dünnhäutig«, ergänzt Jan Philipp Burgard, Chefredakteur der »Welt«-Gruppe. »Der Druck wegen der AfD ist hoch, was sich an dem emotionalen Ausnahmezustand vieler Akteure und einem ziemlich schmutzig geführten Wahlkampf zeigt.«

Dagegen gibt Tobias Rapp, Redakteur im Kulturressort beim »Spiegel«, zu bedenken, dass trotz allem die Umfrageergebnisse seit Wochen ohne größere Ausschläge seien, kurzum: »Das Land wirkt wie festbetoniert. Die Deutschen wissen im Wesentlichen, was sie wollen.«

Jan Philipp Burgard, Chefredakteur der »Welt«-GruppeFoto: Marco Limberg
Entscheidende Legislaturperiode

Eines sei aber sicher, gibt Stefanie Witte, Stellvertretende Leiterin des »Tagesspiegel«-Hauptstadtbüros, zu bedenken: »Die AfD will die Narrative pushen, auch in den nächsten vier Jahren.« Deshalb sieht sie die Abstimmung von vor zwei Wochen, als Merz sich die Mehrheit für einen Entschließungsantrag bei der AfD holte, sehr kritisch. »Das Ganze war eine völlig unnötige Show und kein gutes Beispiel dafür, wie man Lösungen voranbringen kann.«

Der nächsten Legislaturperiode komme auf jeden Fall eine entscheidende Bedeutung zu, ist Engel angesichts der aktuellen Lage überzeugt. »Denn die AfD schaut bereits jetzt schon auf die Bundestagswahl im Jahr 2029. Man hofft, dass bis dahin die Union sich in einer Koalition mit der SPD oder anderen demokratischen Parteien aufreibt und mürbe wird.«

Oder anders formuliert: Werden die Konservativen schwächer, lässt das die Rechtsextremen erstarken. Wenn es aber der nächsten Bundesregierung gelingt, die aktuelle Vertrauenskrise zu überwinden und eine stabile, zielgerichtete Politik durchzusetzen, hat das AfD-Projekt kaum Chancen. »Deshalb werden die nächsten vier Jahre ein Härtetest für die Regierung«, ergänzt Burgard.

Auf dem Podium sieht man ebenfalls einen Härtetest für die Medien, und das auf gleich zwei Ebenen: einmal die Frage nach dem richtigen Umgang mit Vertretern der AfD. Spricht man mit ihnen oder soll man um die Rechtsextremen lieber einen großen Bogen machen? »Die Strategie der Ausgrenzung funktioniert nicht«, glaubt Burgard.

Auch die anderen Journalisten sind der Meinung, dass es besser sei, sie gut vorbereitet und professionell mit ihren Positionen zu konfrontieren. Die andere Frage ist der mediale Umgang mit dem Antisemitismus in islamistisch-migrantischen und linken oder auch linksliberalen Milieus. »Da gibt es oft eine Leerstelle. Klar ist: Es darf keinen Kulturrabatt beim Antisemitismus geben«, so Burgard.

Wenig überzeugende Politiker-Statements

Dazu war es interessant, auch die Positionen der Spitzenkandidaten von CDU, SPD sowie den Grünen und der FDP zu hören und einzuordnen. Der Zentralrat hatte eigens zu zentralen Themen bei ihnen nachgehakt und auf Video festgehalten, beispielsweise, was sie zu den Ängsten von Jüdinnen und Juden hierzulande zu sagen haben. »Ihr seid nicht allein«, verspricht Christian Lindner von der FDP, Scholz sieht erfolgreich den »Staat seine Aufgaben bewältigen«, der Grüne Robert Habeck beschwört die »Zivilgesellschaft« und Merz wünscht sich, dass »Jüdinnen und Juden in unserem Land aufwachsen und leben können«.

Die vier Journalisten scheinen wenig überzeugt davon. »Das klingt nach Sonntagsreden«, so die Einschätzung der »taz«-Journalistin Riese. Substanz kann sie kaum erkennen. Witte vom »Tagesspiegel« schließt sich dem an. »So etwas erinnert mich an den Satz ›Der Islam gehört zu Deutschland‹, und Scholz klingt so, als ob alles super läuft gerade.«

Stefanie Witte, stellvertretende Leiterin des Tagesspiegel-Hauptstadtbüros und Tobias Rapp, Redakteur im Kulturressort des SpiegelFoto: Marco Limberg

Auch die Antworten der vier Spitzenpolitiker auf die Frage, ob Deutschland künftig bei den Vereinten Nationen anders als früher eher zugunsten Israels abstimmt, rufen auf dem Podium sogar Heiterkeit hervor. Denn Scholz und Habeck behaupten, stets fest an der Seite des jüdischen Staates zu stehen, Lindner erklärt seine Partei als nicht verantwortlich für ein inoffizielles Waffenembargo der Bundesregierung und Merz verspricht, alles zu liefern, was das Land zum Sichern seiner Existenz braucht.

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«Spiegel«-Journalist Rapp kritisiert den Unions-Kanzlerkandidaten: »Ich musste schon lachen. Merz tut so, als ob Israels Überleben von deutschen Waffen abhinge.«

»Tachles Pur - Der Talk zur Bundestagswahl 2025«, das konnte man an diesem Montag an solchen Beispielen bestens sehen, lieferte genau das, was versprochen wurde, und zwar schonungslose Analysen.

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