Die Welt brennt um mich herum, und ich habe mich festgeklebt. Nein, es geht hier nicht um Klimapolitik und um keinen Protest auf einer viel befahrenen Straße, sondern ich klebe an Ostdeutschland fest, wo die AfD bereits zwei Kommunalwahlen gewonnen hat und weitere Wahlsiege mit großer Wahrscheinlichkeit bevorstehen.
Als die Partei innerhalb von zwei Wochen in Thüringen einen Landkreis und in Sachsen-Anhalt, circa 50 Kilometer von meiner Wahlheimat Halle an der Saale entfernt, eine Stadt gewonnen hat, da äußerten sich öffentlich bekannte Juden wie Stephan Kramer und Michel Friedman, dass sie im Falle einer AfD-Regierung in Deutschland auswandern würden. Beide Männer sind über 50, haben erfolgreich Karriere in ihren Bereichen gemacht und verfügen über starke persönliche Netzwerke.
zukunft Ich habe in Halle meine Frau gefunden, wir haben hier einen kleinen Hallenser in die Welt gesetzt und bauen mit Anfang 30 mühsam an einer gemeinsamen Zukunft in einer ökonomisch herausfordernden Zeit. Über zehn Jahre Lebenszeit investierte ich darin, Halle zu meiner politischen, beruflichen und sozialen Heimat zu machen.
Trotz stetigem Erstarken der AfD hatte ich bis vor Kurzem die Hoffnung, dass es eine Grenze gibt.
In der Ukraine lebte ich, bis ich sieben war, dann die Migration nach Deutschland und meine ersten vier Jahre in diesem Land in Saarbrücken. In Heidelberg verbrachte ich knapp zehn Jahre, und in Halle, das ich mir selbstständig zunächst fürs Studium aussuchte, lebe ich bisher am längsten. Meine Koffer habe ich also schon ein paar Mal gepackt – und hier in Halle wollte ich endgültig auspacken.
Trotz stetigem Erstarken der AfD hatte ich bis vor Kurzem die Hoffnung, dass es eine Grenze gibt: Diese Rechtsextremen wählt doch niemand in Verantwortung, dachte ich. Das ist jetzt anders, und die Gefahr ist hoch, dass in Ostdeutschland weitere Siege der AfD auf kommunaler und sogar auf Landesebene folgen werden. Friedman und Kramer haben sich festgelegt. Ist es der einzige konsequente Weg, die Koffer wieder zu packen und zu gehen? Abwägungen darüber habe ich immer wieder gemacht. Auszuwandern und wie wir uns im Falle einer AfD-Regierungsbeteiligung verhalten würden, das treibt die Menschen um mich herum gerade sehr stark um.
bedrohung Persönlich wurde ich schon einige Male bedroht. Es waren anonyme Täter und nicht die höchsten politischen Repräsentanten meiner Region. Das ist ein großer Unterschied, die AfD bedeutet eine noch größere Gefahr und Verunsicherung.
Der Gedanke, mein Zuhause aufgeben zu müssen, ist erdrückend.
Die meisten Juden hier in Ostdeutschland sind Menschen mit Migrationsgeschichte. Wir kamen fast alle als jüdische Kontingentflüchtlinge erst nach 1990 nach Deutschland. Wie insgesamt alle zugezogenen Menschen – bis auf beispielsweise wenige Vertragsarbeiter aus der DDR-Zeit – hatten wir knapp 30 Jahre Zeit, Wurzeln zu schlagen. Und jetzt kommen Menschen an die Macht, die uns hier ganz offensichtlich nicht haben wollen.
Wie geht man mit so einer Bedrohung um? Ich arbeite in einer großen Migrantenselbstorganisation und leite zwei Projekte im Antidiskriminierungsbereich. Täglich habe ich jetzt mit Menschen zu tun, deren Verunsicherung angesichts der Wahlsiege zunimmt. Ist es sinnvoll, uns zu wehren gegen den Antisemitismus und Alltagsrassismus, damit wir der AfD und anderen diskriminierenden Menschen vor Ort Paroli bieten können? Oder ist ein Umzugsservice nach Westdeutschland oder gleich nach Israel und andere Länder der einzig richtige Weg?
heimat Gebe ich mich diesen Gedanken hin, so fällt das Atmen immer schwerer. Die Freude über eine gute Hunderunde, das Wissen, wo ein Spielplatz im Schatten in der Nähe ist und wo ich einen überdachten Ort zum Toben fürs Kind finde, fühlen sich so unendlich wertvoll an. Heimat ist für mich ein Ort, an dem man sich Routinen aufgebaut hat, die einem Sicherheit geben. Der Gedanke, das aufgeben zu müssen, ist erdrückend. Natürlich wiederholt sich Geschichte nie eins zu eins, und natürlich ist der Weg der AfD an die Macht noch weit. Aber dieser Weg, das zeigen die Wahlen, kann in wenigen Jahren zurückgelegt werden.
Unterdessen müssen wir Angekommene in Ostdeutschland wehrhafter werden.
Daher ist es eine berechtigte Frage, wer wann diese Wahlheimat Ostdeutschland verlässt. Können Obdachlose, Menschen mit Behinderungen, mit Migrationsgeschichte, queere Personen, Muslime und wir Juden einfach so die Koffer packen und weiterziehen? Sicherlich nicht. Wichtig ist deshalb, dass wir, sollte es jemals so weit kommen, nicht unsere eigenen Koffer packen und aufbrechen, ohne uns umzuschauen, wen wir allein und zurücklassen.
Unterdessen müssen wir Angekommene in Ostdeutschland wehrhafter werden. Im demokratischen Sinne müssen wir für Mehrheiten gegen die AfD kämpfen. Es braucht einen Konsens darüber, dass natürlich Parteien im Wettbewerb um die besten Konzepte für die Zukunft stehen, aber es keinen Überbietungswettkampf an rechtsextremen Ideen geben darf.
Für mich steht im Sommer 2023 fest, dass wir weiter versuchen, unser Leben in Ostdeutschland fortzuführen. Persönlich habe ich die Hoffnung, dass es mir nicht so ergeht wie dem Frosch im Alltagsmythos, der zu spät merkt, dass das Wasser im Kochtopf langsam so heiß wird, dass er bei lebendigem Leibe gekocht wird. Klar, abseits des Alltagsmythos springt ein Frosch rechtzeitig aus dem Topf, aber andererseits bin ich ja auch kein Frosch.
Der Autor lebt in Halle und ist SPD-Politiker.