Der Sitzungssaal ASP3E2 des Europäischen Parlaments ist längst bis auf den letzten Platz besetzt, als Israels Außenminister Eli Cohen und Angehörige von fünf von der Hamas in den Gazastreifen verschleppten Familien eintreten.
Sie richten einen flammenden Appell an die Europäische Union: »Helft unseren Angehörigen, macht bitte etwas!« Cohen formuliert es etwas diplomatischer: »Ich bitte Sie, sich in der Forderung nach sofortiger Freilassung der Geiseln einig zu sein.«
Yoni Asher ist einer von Fünf, die in die europäische Hauptstadt gekommen waren. Seine Frau Doron und die beiden gemeinsamen Töchter Aviv (2) und Raz (4) hat Asher zuletzt vor fünf Wochen gesehen. Die drei waren zu Besuch bei der Schwiegermutter im Kibbuz Nir Oz, als am 7. Oktober Terroristen der Hamas dort eindrangen und sie als Geiseln nach Gaza mitnahmen. Ashers Schwiegermutter wurde auch von den Terroristen mitgenommen, starb aber kurze Zeit später. Yoni Asher selbst war an jenem Tag zuhause geblieben, seine Familie lebt in Zentralisrael.
Zunächst habe er nicht gewusst, wie er mit der Situation umgehen solle, sagt Asher in Brüssel. »Ich habe 48 Stunden nicht geschlafen. Ich konnte nichts tun, außer zu Boden zu fallen. Aber dann habe ich beschlossen, dass ich entweder um das Leben meiner Familie kämpfen oder sterben muss.”
Er stellt die Frage in den Raum, warum die Terroristen ausgerechnet Kinder angegriffen haben. Er habe keinen Hass auf palästinensische Kinder, auch nicht auf die der Peiniger seiner eigenen Töchter. »Wenn der Sohn oder die Tochter desjenigen, der meine Kinder entführt hat, jetzt hier neben mir säße, wissen Sie, was ich tun würde? Ich würde sie umarmen und küssen. Und wisst ihr warum? Weil es Kinder sind!«, ruft er in den Saal.
Er kritisiert die EU für ihr zögerliches Handeln in der Geiselfrage. »31 Tage nachdem meine Frau und meine beiden Töchter, die alle deutsche Staatsbürger sind, von der Hamas entführt wurden, habe ich noch nichts von dieser Organisation gehört. Ist ihr deutscher Pass nur ein Stück Papier? Hat er irgendeinen Wert?« Was am 7. Oktober geschehen sei, so Asher, sei nicht einfach nur Antisemitismus. »Es ist Dschihad. Sie klopfen auch an eure Tür.«
Auch der 22-jährige Sohn von Shai Wenkert, Omer, wurde am 7. Oktober von der Hamas entführt. Er war auf dem Nova-Technofestival. Wenkert sagt, er habe Filmmaterial erhalten, das zeige, wie Shai verprügelt wird, obwohl er mit Handschellen gefesselt war. »Er ist doch nur zu einer Party gegangen, um Glück, Freiheit und Liebe zu feiern«, sagt Wenkert, und fügt hinzu, wie gerne er mit Shai, der in einem Restaurant arbeitet, wieder gemeinsam einen Kaffee trinken gehen würde.
Omri Almog ist nach Brüssel gekommen, um auf das Schicksal seiner Schwester Chen (48) und ihrer Kinder, Agam, Gal und Tal aufmerksam zu machen. Sie wurden aus dem Kibbuz Kfar Aza entführt, wo Hamas-Terroristen ein Blutbad anrichteten. Chens Mann Nadav Goldstein und die älteste Tochter Yam Goldstein wurden in einem Schutzraum ermordet.
Omri Almog wirkt gefasst, wird aber deutlich: »Wir brauchen Ihre Hilfe. Jetzt. Das ist nicht nur unser privates Problem. Es ist auch ein europäisches Problem.«
Die EU unterstütze Gaza, weil es dort ein humanitäres Problem gebe. Aber aktuell gebe es ein weiteres: das Schicksal der Geiseln. »Sie haben hier die Möglichkeit, aufzustehen und zu handeln. Sie können sagen, dass Sie (keine Finanzhilfen) zahlen werden, solange nicht alle Geiseln freigelassen worden sind.«
Doch damit dürfte er in Brüssel wohl mehrheitlich auf taube Ohren stoßen. Viele EU-Politiker haben in den vergangenen Tagen angesichts der Lage in Gaza eine Aufstockung der humanitären Hilfe durch die EU verlangt.
EINFLUSS Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat nun angekündigt, mehr für die Menschen im Gazastreifen tun zu wollen. Für die Geiseln interessiert sie sich dennoch. Die deutsche Chefin der EU-Exekutive hat zuletzt für ihren israelfreundlichen Kurs viel Kritik einstecken müssen. Am Mittwoch traf sie sich nicht nur mit Außenminister Cohen, sondern auch den Angehörigen der Geiseln. Auch Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, von der Leyen-Vize Margaritis Schinas und der für Israel und die Palästinensergebiete zuständige Kommissar Olivér Várhelyi nahmen sich Zeit.
Wie viel Einfluss, über Appelle hinaus, die EU tatsächlich auf die Freilassung der etwa 240 im Gazastreifen festgehaltenen Menschen hat, ist unklar. Die Botschaft der israelischen Besucher in Brüssel am Mittwoch war aber klar: Die EU sollte alle Hebel in Bewegung setzen, um Druck auf die Hamas auszuüben.
Von der Leyen sprach in einer Rede am Montag von einer »der größten Geiselkrisen in der Geschichte Europas und auch vieler außereuropäischer Länder.« Um dann aber doch wieder auf die Mitgliedstaaten zu zeigen. Die werde man, so die Kommissionspräsidentin, »in jeder erdenklichen Weise unterstützen«. Was das genau bedeutet, ließ sie offen.