Genozid

Die Katastrophe

Verschnaufpause: Armenische Kinder auf der Flucht vor ihren türkischen Verfolgern 1915 Foto: wikipedia

Heute auf den Tag vor 95 Jahren, am 24. April 1915, werden in Konstantinopel, Hauptstadt des türkisch-osmanischen Reiches, über Nacht Lehrer, Ärzte, Journalisten, Abgeordnete, Bankiers verhaftet – sämtlich Armenier, eine Elite der christlichen Minderheit, 235 Personen. Eine Zahl, die schnell auf das Zehnfache anschwillt und danach nahezu spurlos verschwindet – Auftakt zu einem bis dahin beispiellosen Menschheitsverbrechen.

In diesem Saal kann vorausgesetzt werden, dass bekannt ist, was darunter zu verstehen ist. Aber auch, wenn es wehtut, und es wird wieder wehtun, muss darauf eingegangen werden. Warum? Weil die Täter und ihre Nachfahren über dieses Verbrechen eisern schweigen. Sonst unerschöpflich in ihren Leugnungsvariationen, verliert die türkische Lebenslüge kein Wort über das Mosaik der Vernichtung, über die Mordtaten, die Tötungen selbst, die Individualisierung und Personifizierung eines Schicksals von Millionen. Im schriftlichen und mündlichen Vokabular der Leugner, so inflationär es auch ist, werden wir vergeblich danach suchen. Es ist, als wenn sie sich fürchten, auszusprechen, anzufassen, anzusehen, was sie leugnen.

Wir ehren die Opfer, indem wir das Schweigen brechen, wie sie es wurden, und durch wen. Das führt uns heute zum 95. Gedenktag hier an dieser ehrwürdigen Stätte zusammen. Kurz zur Historie: Nach schweren Pogromen schon in den Jahren 1894, 1896 und 1909 mit Zigtausenden von Toten, holt das jungtürkische Dreigestirn Enver Pascha, Kriegsminister, Dschemal Pascha, Marineminister, und Talaat Bey, Innenminister, zum finalen Schlag gegen die seit je missliebige Minorität aus. An der Seite des Deutschen Kaiserreiches dem Ersten Weltkrieg gegen Russland, England und Frankreich beigetreten, werden die Maßnahmen begründet mit »Abwehr drohenden Verrats« und »Hilfe für den Feind« – ein Vorwand, um die Tötungsmaschinerie in Gang zu setzen. Ihr Name: Deportation.

Auf einen Schlag Der Befehl dazu ergeht am 27. Mai 1915. Er setzt in Ost- und Mittelanatolien, in der Schwarzmeer-Region und in Kilikien, danach auch im Westen des Reiches auf einen Schlag Hunderttausende Armenier beiderlei Geschlechts und jeden Alters in Bewegung – eine Völkertragödie von bis dahin einmaligem Ausmaß. Vorher waren bereits Tausende und Abertausende von armenischen Soldaten ausgesondert und umgebracht worden.

In unübersehbaren Kolonnen werden die Vertriebenen mit meist nicht mehr als den Kleidern auf ihrem Leib über unwegsame Gebirge und reißende Flüsse den Wüsten Syriens und Mesopotamiens zugetrieben – wo jedoch nur ein kleiner Teil von ihnen eintreffen wird. Die anderen werden unterwegs angefallen – von Gendarmen, Militärs, professionellen Räubern, von Kurden und ausdrücklich zu diesem Zweck freigelassenen Sträflingen.

Die menschliche Fantasie reicht nicht aus, sich die Schreckensbilder vorzustellen, die nun zwischen Trapezunt und Aleppo abrollen, und die sich zutrugen zwischen Waffenlosen und Schwerbewaffneten. Massenexekutionen und Einzelmorde, Tod durch Pfählen, Häuten und Verbrennen bei lebendigem Leibe, notorische Schändungen von Frauen und Mädchen, Verschleppung in Harems, Versklavung in muslimischen Haushalten und Kinderraub.

Gebt uns Gift Man stelle sich das vor: Aufbruch von heute auf morgen, oft nur mit Stundenfrist – ohne jede Vorbereitung, eine kollektive Order. Unterwegs Mangel an allem, an Nahrung und Wasser, an Transportmitteln und medizinischer Versorgung. So sind die Deportierten, schutzlos und bald entkräftet, den Attacken staatlicher und nichtstaatlicher Verbände ausgeliefert. Die größten Verluste erlitt die Bevölkerung aus den Kerngebieten des östlichen Anatolien, Verbrechen, die auf immer verbunden bleiben werden mit Namen wie Van, Erserum, Bitlis, Diarbekir und der Schlucht von Kemal Bog, einem Massengrab junger Frauen, um einem noch schlimmeren Schicksal zu entgehen. Der Rest sind die Wüstenlager – für die, die sie erreichten: trostlose Zielorte, Homs, Hama, Der-es-Sor, Mossul. »Gebt uns Gift, kein Brot, wir müssen ohnehin sterben«, so die zu Skeletten Abgemagerten zu hilfswilligen Ausländern, die bis zu ihnen vorgestoßen waren. Lässt sich ein höherer Grad an menschlicher Verzweiflung denken? »Gebt uns Gift, kein Brot ...«. Dann starben sie.

Wenn es denn überhaupt noch eines Beweises für die Vorsätzlichkeit des Völkermords bedürfte - hier in der Wüste, in diesem Zentrum des Nichts im Nirgendwo, hier ist er erbracht.

Ende 1915 ist die Mehrheit der Armenier getötet. Dazu Talaat Bey, die Seele der Vernichtung: »La question armenien n’existe plus« – »Die armenische Frage existiert nicht mehr«. Seither schweigen die Landschaften, weite Gebiete, die über biblische Zeitläufte voll waren von armenischen Lauten und Stimmen, klingt von dort kein Ton armenischer Musik mehr herüber, kein Tanz nach den alten Melodien, kein Widerhall von Freude, kein Hauch kindlicher Lebenslust.

An diesem 24. April, dem 95. Gedenktag, wollen wir uns noch einmal vergewissern: Auch, wenn alle Gräuel, von der Antike an, unter das Elektronenmikroskop der Geschichte gelegt werden - was dort 1915 stattfand, war ein Kosmos von Vertreibung, Enteignung und Mord, dessen Dimension einen neuen Begriff schuf. Offiziell wird er von türkischer Seite »die tragischen Ereignisse« genannt, im besten Fall »ein gegenseitiges Massaker«. Beides Umschreibungen, die schlechtes Gewissen signalisieren. Und eine unheimliche Parallele zu Hitlerdeutschland. Dort wurde die Vernichtung der Juden im deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges bekanntlich »Endlösung der Judenfrage« genannt.

Bundesgenosse Ganz offenbar haben Täter und ihre Nachfahren das dringende Bedürfnis, ihre Verbrechen zu kaschieren. Während wir heute hier zusammengekommen sind, um sie beim Namen zu nennen: Genozid. Völkermord. Zu seinen Mittätern und Mitwissern – der deutsche Bundesgenosse des osmanischen Reiches wusste alles, alles und jedes. Die Akte Türkei 183, Band 36 bis 46 im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes liest sich wie ein Protokoll des Genozids. Die Deutsche Botschaft in Konstantinopel-Pera unterrichtete die Reichsregierung Tag um Tag, bis in die letzten Einzelheiten: dass auf dem Euphrat bei Runkelah und Birodjik 25 Tage lang Leichen vorbei getrieben sind, alle mit auf dem Rücken gebundenen Händen; dass Gendarmen mit Peitschenhieben Frauen, Kinder und Greise durch die Straßen von Aleppo getrieben haben, und dass bei Ras al-Ain Haufen von erschöpften Armeniern eingetroffen waren, die nur noch wenig Ähnlichkeit mit Menschen gehabt hätten. Niemand kann diese Berichte von Augenzeugen lesen, ohne Pausen einzulegen, die Augen zu schließen und sich weit weg zu wünschen.

Bei dieser Gelegenheit muss zur Ehre der muslimischen Bevölkerung vermeldet werden, dass es Versuche gab zu helfen – mit Lebensmitteln, Früchten und Wasser, Beispiele einer entsetzten Anteilnahme, die schweren Strafandrohungen ausgesetzt war und sich dennoch nicht abschrecken ließ. Die Regel war diese Haltung in einer Atmosphäre hysterischer Tötungsbereitschaft allerdings nicht, doch gerade deshalb darf sie nicht unerwähnt bleiben.

Bericht folgt Auch heute wieder, gerade an diesem Tag, stellt sich wie von selbst die Frage: Was wäre gewesen, wenn der überlegene und militärisch präsente deutsche Bundesgenosse eingegriffen hätte? Welche Wendung hätte das Schicksal der Armenier nehmen können, wenn die kaiserliche Regierung gegen den bis ins Letzte bekannten Vernichtungsakt protestiert hätte – wie General Liman von Sanders, Leiter der deutschen Militärmission im türkisch-osmanischen Reich? Der hatte am 13. November 1916 dem Wali von Smyrna, also dem obersten Verwaltungsbeamten, Waffengewalt angedroht, sollte er dem Befehl von Massenverhaftungen und -deportationen nachkommen. Darauf die deutsche Botschaft am 17. November nach Berlin: »Armenierverschickungen aus Smyrna haben auf Eingreifen des Marschalls aufgehört. Bericht folgt. Kühlmann.«

Was, wenn dieses Beispiel Schule gemacht hätte? Das Thema verbietet Spekulationen, nicht aber die Frage nach der deutschen Mitverantwortung an dem Völkermord. Sie ist überwältigend.

An einem Tag wie diesem müssen die Namen zweier Menschen genannt werden, die Deutschland vor der Kollektivschande organisierter Verdrängung bewahrt haben, und die deshalb ganz zu Recht in armenischen Herzen weiterleben. Der eine ist der Theologe Johannes Lepsius, also der Mann, der sich im August 1915 mitten in der Deportationsphase auf den beschwerlichen und gefährlichen Weg nach Konstantinopel gemacht hatte, um sich an höchster Stelle für die damals schon weit dezimierten Armenier einzusetzen – zu Enver Pascha.

Gnadenlos Ich habe mir immer wieder die von Franz Werfel in seinem erschütternden Roman Die vierzig Tage des Musah Dag geschilderte Szene vorstellen müssen: Lepsius, ein gravitätischer Mann nach dem Habitus der damaligen Zeit, in einen abgedunkelten Raum geführt, sichtbar mitgenommen von den Strapazen der langen Reise und übervollen Herzens für die Sache der Armenier. Ihm gegenüber, geschniegelt, eisig, von schneidender Höflichkeit, unnahbarer Ablehnung und meistens stumm, der kleinwüchsige Abenteurer und jungtürkische Charismatiker Enver Pascha – gnadenlos. Das Schicksal der Armenier ist besiegelt. Lepsius kehrt unverrichteter Dinge zurück.
Inzwischen sind durch seine bekannt gewordenen Versuche, die deutsche Mitverantwortung herunterzuspielen, auch auf diesen Namen Schatten gefallen, die nicht unterschlagen werden dürfen. Das kann aber nichts daran ändern, dass die beiden Werke des großen Chronisten – Deutschland und Armenien und Der Todesmarsch des armenischen Volkes – in ihrer überzeugenden Beweiskraft und Unmittelbarkeit die Zeiten überdauern und zum Nachruhm eines Mannes werden, der sein Leben der armenischen Sache verschrieben hatte, bezeichnenderweise in seiner Heimat Deutschland aber so gut wie vergessen ist.

Der andere ist Armin T. Wegner, der den Völkermord optisch belegt hat. Als Sanitätsgefreiter im Stabe des deutschen Feldmarschalls Colmar Freiherr von der Goltz hat er auf dem Marsch von Konstantinopel nach Bagdad quer durch das Deportationsgebiet trotz strikten Verbots zahlreiche Aufnahmen gemacht. Schreckensbilder, wie ich sie nur noch einmal gesehen habe: nach der Befreiung der deutschen Konzentrationslager durch die Alliierten – in Buchenwald, Mauthausen, Dachau, Bergen-Belsen. Dokumente, die sich im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach am Neckar befinden, wo ich sie für meine Fernsehsendung über den Untergang der Armenier vor 25 Jahren einsehen konnte.

Armin T. Wegner, entschiedener Demokrat und Humanist, ist Autor der armenischen Leidenschronik Weg ohne Heimkehr, einer der wenigen Deutschen, der furchtlos für die verfolgten Juden unter Hitler eintrat, sein ganzes Leben den Entrechteten weihte und 1978 starb – in Rom, 92-jährig, hochgeehrt von Armeniern und Juden, in Deutschland aber ebenfalls so gut wie totgeschwiegen. Ehre seinem Andenken!

Wie tief das schlechte Gewissen der damals verantwortlichen Deutschen war, zeigte sich am Beispiel des Falles Soghomon Tehlirjan. Der 24-jährige Armenier hatte am 15. März 1921 in Berlin-Charlottenburg den damals 47-jährigen Mehmet Talaat, genannt Talaat Bey, mit einer Kugel niedergestreckt. »Ich habe einen Menschen getötet, aber ein Mörder bin ich nicht«, soll er gesagt haben. Unter den ermordeten Armeniern waren auch Angehörige seiner Familie gewesen.

Tehlirjan kommt am 16. März 1921 in Untersuchungshaft und wird am 2. Juni der Strafkammer 6 des Berliner Landgerichts vorgeführt. Der stenografische Bericht der Verhandlung ist erhalten geblieben – eine Lektüre neben Zeugenaussagen, deren Inhalt Gericht und Öffentlichkeit das Blut in den Adern erstarren ließ. Talaat war nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zum Tode verurteilt worden, geflohen und in der deutschen Hauptstadt mit dem Status eines politischen Flüchtlings komfortabel untergekommen.

Nicht schuldig Das Urteil wird im Zeichen nicht zu verbergender Hast schon am nächsten Tag, dem 3. Juni 1921, verkündet -– und gerät zur Sensation. Denn auf die Frage des Richters, ob der Angeklagte schuldig sei oder nicht, antwortete laut Protokoll der Obmann der Geschworenen: »Auf Ehre und Gewissen – nicht schuldig!« Nächster Schock – der Staatsanwalt legte keine Berufung ein. Ein klarer Rechtsbruch, da der Tötungsvorsatz vom Angeklagten nicht bestritten, sondern ausdrücklich eingestanden worden war. Das Motiv dahinter: die tiefe Verstrickung des Deutschen Kaiserreichs in die Vernichtung der Armenier. Also lieber Gras wachsen lassen über die Hintergründe des Attentats – Justitia kniff beide Augen zu. Man braucht kein Befürworter von Selbstjustiz zu sein, um sich über Soghomon Tehlirjans Freispruch erleichtert zu fühlen. Ich jedenfalls fühle mich so.

Alle deutschen Regierungen haben sich an die Politik der Vertuschung und Verdrängung gehalten, Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich und die Bundesrepublik Deutschland – bis zum 22. Februar 2005. An dem Tag wurde dem Bundestag auf Initiative der CDU/CSU-Fraktion die Druckschrift 15/4933 vorgelegt: Darin wird sich rückhaltlos zur deutschen Mitschuld und Mitverantwortung bekannt, auf die Einzelheiten staatlicher Gewalt eingegangen, sich tief vor den Opfern verneigt und die Türkei aufgefordert, ihr Schweigen zu brechen und zur Versöhnung beider Völker beizutragen.

Einigkeit Ich habe mir bei dieser Lektüre die Augen gerieben und ihren Inhalt gar nicht glauben wollen. Da geschah etwas, worauf nach allem kaum noch zu hoffen war – der Bruch mit einer der schmählichsten Traditionen deutscher Geschichte über beinahe das ganze 20. Jahrhundert hin. Dazu nun Bilder, die fast zu schön waren, um wahr zu sein: die Drucksache 15/4933 wurde unter parteiübergreifendem Applaus und mit interfraktioneller Einigkeit ohne Gegenstimme oder Enthaltung angenommen und zur Ratifizierung weitergereicht. Ein großes, in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus kaum fassbares Wunder: das Schicksal der Armenier hatte die Stimmen von Regierung und Opposition geeint!

Das große Schweigen war gebrochen, endlich, nach 90 Jahren. Und doch, bei aller Freude, da fehlte etwas, ein Wort, ein Schlüsselwort: Völkermord. Offenbar war es ganz bewusst vermieden worden, so unverblümt auch sonst darin auf die Vernichtung der Armenier eingegangen wurde. Ganz plötzlich hatte das epochale Ereignis einen schlechten Beigeschmack bekommen. Da war etwas ausgeblieben, ein letzter Durchbruch, der den Armeniern endlich den Eindruck hätten nehmen können, von der internationalen Politik immer nur als bloßer Störfaktor empfunden zu werden. Dieses Defizit setzte mir zu. Da bis zur Ratifizierung der Resolution durch den Bundestag noch Zeit und Korrekturmöglichkeiten gegeben waren, wandte ich mich in großer innerer Unruhe an die rot-grüne Regierung Schröder/Fischer mit der Bitte: »...nachzuholen, was alle ihre Vorgänger aus Rücksichtnahme auf den ewigen Bundesgenossen Türkei und langjährigen Anwärter auf die EU-Mitgliedschaft versäumt haben: Die Vernichtung der Armenier 1915/16 auch Völkermord zu nennen und die Türkei zu drängen, ihr seit 90 Jahren praktiziertes Prinzip staatlicher Leugnung endlich aufzugeben.

Weißer Fleck Hier schreit etwas aus der Tiefe der Geschichte nach Gerechtigkeit, hier erhebt sich eine vielfach überfällige Forderung aus Millionen stummer Münder, hier gilt es, ihrem Anspruch nachzukommen. Darauf wartet das armenische Volk.« Und der Brief schloss: »Jedermann kennt den Völkermord an den Juden, der Völkermord an den Armeniern jedoch hat nach wie vor keinen festen Platz im öffentlichen Bewusstsein der Menschheit, sondern ist immer noch ein weißer Fleck darin. Deshalb: Handeln Sie schnell – die Armenier haben keine Zeit zu verlieren. Es ist schon spät genug. Mit vorzüglicher Hochachtung, Ralph Giordano, Überlebender des Holocaust.«

Der Brief blieb unbeantwortet, die Resolution aber wurde vom Deutschen Bundestag ratifiziert – am 15. Juli 2005, einstimmig und – ohne das Wort Völkermord. Meine dunklen Ahnungen hatten mich nicht getrogen. Was hat sich in den fünf Jahren seither getan, was ist den hohen Werten und dem hehren Wort der Resolution gefolgt? Ausflüchte, Verzögerungen, Passivität - ich wünschte, ich könnte Ihnen eine bessere Botschaft überbringen.

Mit ihrem Zögern fällt die heutige schwarz-gelbe Bundesregierung weit hinter den damaligen Bundestagsbeschluss zurück. Schon hat das Auswärtige Amt, hat Berlin die These von den »tragischen Ereignissen« übernommen. Auch keine Silbe mehr von der Forderung, die Geschichte der Vertreibung und Vernichtung der Armenier zur Aufgabe bundesdeutscher Bildungspolitik in der Obhut der Länder zu machen. Stattdessen die Zustimmung zu einer sogenannten »unabhängigen Historikerkommission« zur Aufklärung der »tragischen Ereignisse«. Diesem vorläufigen Höhepunkt organisierter Geschichtsverschleierung, dieser Provokation aller Armenier in der Republik wie in der Diaspora, wird ein für allemal mit glühenden Lettern diese Charta entgegengesetzt: »Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 im türkisch-osmanischen Reich braucht so wenig hinterfragt zu werden, wie der Völkermord an den Juden im deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges. An der Faktizität beider Genozide ist nicht zu rütteln.«

Vernichtungsunternehmen Und ich füge mit der Legitimation meiner Biografie hinzu: »Die sogenannte unabhängige Historikerkommission ist die Fortsetzung der Auschwitz-Lüge mit anderen Vorzeichen.« Schluss, endlich Schluss mit der türkischen Lebenslüge von den »tragischen Ereignissen« und dem »gegenseitigen Massaker«! Ich frage: Wo und wann hätten die Armenier im türkisch-osmanischen Reich je die administrative Macht gehabt, Millionen von Türken den Befehl zu erteilen, ihre angestammten Wohnsitze innerhalb von Stunden mit unbestimmtem Ziel zu verlassen und so ganze Regionen zu entvölkern? Ich frage: Sind die Opfer der Schreckenslektüre Akte Türkei 183, Band 36 bis 46, Armenier oder Türken? Ist in den Wilajets Bitlis, Erzurum, Van und Sivas die armenische oder die türkische Bevölkerung ausgerottet, sind auf den organisierten Sklavenmärkten von Peri, Egin und Baiburt nach dem Prinzip des höchsten Nutzwertes entheimatete Armenierinnen oder Türkinnen verkauft worden? Und frage weiter: Was ist eine auf alle Versorgungsplanungen verzichtende Deportation mit dem Endziel Wüste denn anderes, als ein kalt geplantes Vernichtungsunternehmen, ohne andere Absicht als zu töten? Und was die zynische These vom »gegenseitigen Massaker« anderes als das Codewort einer entseelten Totenarithmetik, hinter der die wahren Opfer mit den Tätern gleichgeschaltet werden sollen?

Hinter der Vernichtung der Armenier durch die jungtürkische Regierung hat nie etwas anderes gestanden als die Vision eines einheitlichen, ausschließlich islamischen und von der türkischen Herrenrasse bestimmten Nationalstaates, mit Grenzen tief hinein nach Zentralasien. Ein blutig endendes Drama in einem real existierenden Vielvölkerstaat, dessen Führung Minderheiten immer im Wege waren – und im Wege sind.

Heute hat die große Lebenslüge der Türkei einen Namen: Recep Tayyip Erdogan, Ministerpräsident der Republik. Unvergessen sein Auftritt in der Köln-Arena vom Februar 2008 vor einer aufgeheizten, kochenden Menge von 18.000 Köpfen. Da stand er vorn, ganz Übervater aller Türken »urbi et orbi«, ein Marionettenkünstler von hohen Graden und der Verkünder dreier verschlüsselter Botschaften: erstens »Lernt Deutsch, aber bleibt, wer ihr seid«; zweitens »Bildet einen Staat im Staat, aber nennt es nicht so«; und drittens »Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Ehrlicher wäre er gewesen, wenn er gesagt hätte: »Lasst euch nicht integrieren«.

Abschottung Es war eine unverblümte Kampfansage an die deutsche Mehrheitsgesellschaft, das Integrationsfeindlichste, was ich je aus dem Mund eines türkischen Politikers gehört habe, eine eindeutige Abschottungsrede. Zu anderen Unzumutbarkeiten hinzu kommt noch Erdogans neuerliche Forderung nach türkischen Universitäten in Deutschland, anstatt für die Kenntnis der deutschen Sprache als ein Grundelement der Integration zu plädieren.

In unser aller Köpfe ist wohl noch die Drohung des Ministerpräsidenten: »Es leben 100.000 Armenier in meinem Land, die nicht seine Bürger sind. Und denen ich sagen kann, wenn es nötig wäre: Los, zurück in das Land, wo ihr herkommt.« Das war, nachdem der Stockholmer Reichstag und der Auswärtige Ausschuss des amerikanischen Repräsentantenhauses von Völkermord gesprochen hatten. Gleichzeitig machte Erdogan die Öffnung der seit 1993 geschlossenen Grenzen abhängig von der armenischen Zustimmung zu der ominösen »Historikerkommission«, gefolgt von der Warnung, die Verhandlungen abzubrechen, sobald wieder von Völkermord gesprochen werde. Das klingt nicht nach Aussöhnung von Türken und Armeniern, das ist die Stimme eines Brandstifters.

Tabu In der Türkei hat sich eine regelrechte Leugnungsindustrie etabliert, eine Staatsphilosophie historischer Selbstentsorgung, eine Verneinungsdoktrin mit der Losung: Wie kommen wir am billigsten davon? Was dabei von Armeniern eingefordert wird, ist das Infamste, was ihnen zugemutet werden kann – sich an der Revision ihrer eigenen Geschichte zu beteiligen. Das ist die Absicht. Nicht, das Leid der Armenier tiefer in das Weltbewusstsein zu pflanzen; nicht, nach fast hundert Jahren der türkischen Lebenslüge abzuschwören, sondern die Nachfahren der Opfer aufzufordern, den Genozid an den Eltern und Großeltern auf das sprachgeregelte Niveau der türkischen Staatsräson abzuflachen – eine Perversion sondergleichen. Aber die Majestät der Wahrheit hat ihre eigenen Gesetze.

Und die machen auch vor der Türkei von heute nicht halt. Denn ein Tabu, wie so lange, ist der Völkermord auch dort nicht mehr. Seit dem 90. Gedenktag vor fünf Jahren, an dem ich die Ehre hatte, hier zu sprechen, haben atmosphärische Veränderungen stattgefunden, haben sich Stimmen mit einem neuen Ton gemeldet. Wir erinnern uns an Orhan Pamuk, ich zitiere: »Man hat hier eine Million Armenier umgebracht, und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es, und dafür hassen sie mich.«

Wir kennen die Bilder, die diese Äußerung nach sich zog: körperliche Angriffe, Polizeischutz, Verfahren wegen »Verunglimpfung des Türkentums« nach dem berüchtigten Paragrafen 301. Man braucht Pamuk nicht in allem zustimmen, etwa seiner Europa-Politik, aber er hat laut ausgesprochen, was viele denken. Es dürfte wohl sein Status als Literaturnobelpreisträger sein, der ihn bisher vor Schlimmerem bewahrt hat.

Mörderisch Das widerfuhr einem anderen – Hrant Dink. Er hatte auf die Frage »Genozid oder nicht?« die klassische Antwort gegeben: »Vergesst über den Streit um die Definition nicht den Völkermord selbst.« Dafür wurde er ermordet, am 19. Januar 2007, im Istanbuler Stadtteil Sisli, vor dem Redaktionsgebäude seiner kleinen Zeitung Agos. Der Täter war 17, seine Hintermänner aber Väter und Großväter. Ein bequemer Mann war Hrant Dink nicht, auch nicht für die armenische Seite, mit seinen eigenwilligen Ansichten über Aussöhnung. Seinem immer voraussehbareren Tod aber ist er mit offener Brust entgegengetreten.

Die große Überraschung – seine Beisetzung: eine unübersehbare Masse, es war die Rede von Hunderttausenden, ein kilometerlanger Trauerzug. Mag sein, dass dabei auch parteipolitische Süppchen gekocht wurden, an der Symbolik des Tages ließ sich jedoch nicht deuteln: Der Bann ist gebrochen! In einem Land, in dem die Armenier zur bedrängten christlichen Minderheit gehören, war die Beisetzung mehr als eine bloße Sensation – schwarze Tücher, schluchzende Menschen, Transparente mit Bekenntnissen. Mich hat es bewegt, als Rakel Dink, die Witwe, so Augenzeugen, mit hoher brüchiger Stimme gegen den Wind einen letzten Gruß an den Toten sandte. Recep Tayyip Erdogan konnte übrigens an der Beisetzung nicht teilnehmen, er hatte einen dringenden Termin: Er musste einen Autobahntunnel eröffnen.

Gespenst Die Türkei wird von schweren inneren Spannungen geschüttelt, und die sollten hier nicht unerwähnt bleiben, weil ihre Wellenkreise sowohl an die Ufer der armenischen Republik als auch an die der armenischen Diaspora schlagen. Am Bosporus geht ein Gespenst um, ein Gespenst mit dem Namen Staatsstreich. Nur, dass diesmal die Wächter des kemalistischen Erbes selbst auf die Anklagebank sollen, darunter Vier-Sterne-Generäle, von denen man bei früheren Anlässen gewohnt war, dass sie einsperren ließen, nicht eingesperrt wurden. Unter martialischen Kennworten wie »Vorschlaghammer« und »Käfig« kommen Putschszenarien ans Tageslicht und werden Umsturzpläne aufgedeckt. Da wird zweierlei gefürchtet: Säkularer Terrainverlust und schleichende Islamisierung. Aber das mit ungewohnt defensiver Haltung: der Chef des Generalstabs entschuldigte sich bei der Regierung Erdogan dafür, dass seiner Frau wegen ihres Kopftuchs das Betreten eines Militärkrankenhauses verwehrt worden war – Insider sprachen von einer kulturellen Zeitenwende.

Nadelöhr Noch ein Wort zum Dreieck Türkei – Europa – Genozid, weil auch das armenische Kreise berührt. Ich frage von dieser Stelle aus nach Brüssel: Wann hört die Europäische Union endlich auf, die Türkei zu belügen? Zu belügen, indem sie ihr weiterhin die Fata Morgana, das Trugbild eines EU-Vollmitglieds, vorgaukelt? Schon das Nein auch nur eines einzigen der bisher 27 Mitglieder kann es verhindern, aber es werden weit mehr sein. Was soll also diese zähe Täuschung, dieser Eiertanz wider besseres Wissen? Die Türkei – ein europäischer Rand, aber asiatische Wurzeln; eine ungestüm wachsende Bevölkerung; das Zypern- und Kurdenproblem; die permanenten Menschenrechtsdefizite; der ständige Reformstau – all das und mehr würde die ohnehin schwer gebeutelte EU hoffnungslos überfordern. Doch zu welchen Ergebnissen man auch immer kommen mag, ob Vollmitgliedschaft, »privilegierte Partnerschaft« oder ein drittes Modell – eines muss die Türkei wissen: der Weg dahin kann nur durch das Nadelöhr der offiziellen Anerkennung des Völkermords an den Armeniern 1915/16 führen. Es führt kein anderer Weg dahin. Solange die Türkei sich dazu nicht durchgerungen hat, solange sie bei ihrer Verneinungsstrategie bleibt, so lange sind die Dämonen der Vergangenheit nicht gebannt!

Identität Die Geschichte der Armenier hat nichts zu verbergen. Darin liegt ihre Kraft. Auch da, wo sie in einem blutig aufgezwungenen Kampf ihrerseits Menschenrechte verletzt haben sollten, war der historische Rahmen immer von ungleichen Kräften bestimmt; wo immer Armenier zu Gewalt griffen, waren Verzweiflung und Aggression die Ursachen. Auch da gibt es nichts zu verbergen. So wenig wie bei jener kurzen Phase während der 70er-Jahre, als mit Anschlägen eine Anerkennung des Genozids eingefordert wurde. Es gab Tote und Verletzte, und einen innerarmenischen Zwiespalt zur Gewaltfraktion – die aus Angehörigen der dritten Diaspora-Generation bestand. Ich erinnere mich noch heute an meine tiefe Bewegung, als mir einer von dieser Generation zehn Jahre nach dem Ende der Anschläge in Paris in die Kamera sagte: »60 Jahre lang, bis 1975, versuchten die Armenier auf politische Weise, ihre Rechte geltend zu machen. Sie wandten sich an die internationalen Instanzen, um zumindest die Anerkennung ihrer geringsten Forderungen zu erreichen – Anerkennung des Völkermords und die Verurteilung seiner Urheber. Doch 60 Jahre lang hat das armenische Volk nichts erreicht und nichts erhalten. So beschlossen Armenier zu kämpfen.« Und dann kam es: »Wir sind ein Volk im Exil, ein seines Bodens beraubtes Volk, dessen Geschichte verleugnet wird, ein Volk, das der Auslöschung seiner Identität unterzogen wird. Wir führen einen Kampf zur Wahrung unserer Identität und für die Befreiung der armenischen Territorien, die uns durch den Völkermord genommen worden sind.«

Jedermann weiß heute, dass die Anschläge nicht der richtige Weg waren. Darauf wartet der Gegner nur, das ist die Waffe, mit der er zurückschlagen kann, und darum wäre sie die falsche. Aber ich kriege rote Ohren, wenn Nichtarmenier im Stile selbsternannter Richter die Motive ignorieren, die diesen Anschlägen zugrunde lagen. Sie bleiben Forderungen an die Welt, an die Völkergemeinschaft, die UNO, die EU und an die Gerechtigkeit auf Erden!

Gleichzeitig aber wird das große Problem sichtbar, das hinter allem steht: die Identität der armenischen Diaspora!
Die türkische Seite setzt ganz zynisch auf die Karte Zeit. Also auf die Erwartung, dass sich die Armenier angesichts ihrer Zerstreuung erst zersetzen und dann auflösen werden – und sich so »das Problem von selbst lösen würde«, wie mir gegenüber offen erklärt wurde. Auf diese Weise, ohne Gewalt und Waffenwirkung, soll den Armeniern jenseits der armenischen Republik biologisch der Garaus gemacht werden.

Verstreut Und in der Tat, die Weltkarte der Diaspora sieht aus wie ein Fleckenteppich, verstreut über alle Erdteile: neben Resten in Istanbul und einer unbestimmten Zahl von Krypto-Armeniern im mittleren und östlichen Anatolien – Armenier im Vorderen und Mittleren Orient (Irak, Syrien, Libanon, Iran); in Europa, mit Schwerpunkt Frankreich; aber auch in der Bundesrepublik; in den USA, vornehmlich in Kalifornien; in Lateinamerika, hauptsächlich in Argentinien, und daneben noch mit Mikroziffern in fast einhundert Ländern.

Dabei gibt es manche identitätserschwerenden Umstände. Während die jahrtausendealte jüdische Diaspora meist unter dem identitätsfördernden Außendruck einer feindlichen Umwelt stand, sind große Teile der Armenier Christen unter Christen, wenngleich mit eigener Kirche, aber doch ohne das Odium eines lästigen Ausländertums. Aber gerade das, was den Armeniern ihr Los erleichtert, erschwert ihnen ihr zentrales Problem – die Bewahrung ihrer Identität in einer Diaspora von noch nicht absehbarer Dauer.

Zerstreuung kann auch Umarmung bedeuten, in der Minderheiten und nationale Eigenarten dahinschmelzen, kann das Typische, Exemplarische eines Volkes sanft ausbluten. Ist das der Weg der armenischen Diaspora? Ich wage eine Antwort.

Auch auf lange Sicht bange ich nicht um die kulturelle Eigenart, den politischen Zusammenhalt und die demografische Existenz der Armenier in der Diaspora. In den langen Jahrzehnten, in denen ich die armenische Sache zur meinen gemacht habe, bin ich immer wieder Zeuge geworden, wie zäh sich armenische Existenz in der Fremde behauptet hat, wie tief sie sitzt, auch in der vierten Generation. Ich habe gespürt, wie wahr ist, was mir damals in Paris bei den Dreharbeiten für meinen Film die armenische Historikerin Anahid Ter Minasian sagte: dass die Armenier ein »altes Volk« seien, das seine jetzige Gestalt aus einer Kette unzähliger Geschlechter bezogen hat, und dass darin eine eingeborene Widerstandsenergie gegen die türkische Hoffnung auf die auslösende Kraft der zerrinnenden Zeit besteht.
Es war übrigens die Stunde, in der Anahid Ter Minasian das wunderbare, mir unvergessliche Wort vom »armenischen Volk, diesem kleinen Fetzen Menschheit« fand. Ich habe immer wieder gespürt, wie schwer es fremdem Einfluss fällt, den Fels armenischen Ursprungs abzuwittern, armenische Originalität von außen abzutragen.

Ein Fest Es ist noch gar nicht lange her, dass ich es aufs Neue erfahren habe. Bei einem Auftritt des weltberühmten Pariser »Ensemble Armenienne Navarsat« in Köln. Das strahlte nur so, zitterte und stampfte, ein rauschendes Fest in Farben, Klängen und Rhythmen, ein wahrer musikalischer Hurrikan über neunhundert Zuschauerinnen und Zuschauer hinweg, die meisten davon Armenier. So ging es über zwei Stunden, ohne die kleinste Ermüdungserscheinung, eine Figurengruppe nach der anderen. Dann der Flor armenischer Kinder, Mädchen und Jungen, die sich an der Treppe zur Bühne drängten, beseelt von dem Wunsch, den vergötterten Akteuren so nahe wie möglich zu sein. Welch ein Anblick!

Da, liebe Freundinnen und Freunde, ist mein Herz aufgegangen, da habe ich, in eigenmächtiger Umwandlung des Refrains der polnischen Nationalhymne, also eines anderen gequälten Volkes, da habe ich laut ausgerufen: »Noch ist Armenien nicht verloren!«
Ohne in die Nähe eines selbstbetrügerischen Optimismus zu rücken, darf gesagt werden, dass Anpassung und Einschmelzung bisher ausgeblieben sind, ja, dass die Entwicklung eher in die entgegengesetzte Richtung geht, in bewusster Selbstbehauptung, wachem Stolz auf Vergangenheit und Gegenwart und striktem Widerstand zur verbissenen türkischen Verneinung.
Gar nicht zu überschätzen, welches Gewicht in dem gewiss langwährenden Kampf der Diaspora-Armenier um ihr religiöses und ethnisches Überleben die »Apostolische Heilige Kirche« hat, und natürlich die Republik Armenien südlich des Kaukasus, deren Bedeutung in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer bescheidenen Geografie steht. Kaum zu überschätzen aber auch die vorbildliche Arbeit des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität in Bochum unter ihrem verdienten Leiter Dr. Mihran Dabak, der mir die Brücke zu den Armeniern geschlagen hat. Dafür an dieser Stelle einmal mein öffentliches Dankeschön.

Schwarzes Loch Ich bin überall auf der Welt mit Opfergruppen in Berührung gekommen, habe ihre Schicksale inhaliert und mich mit ihnen konfrontiert und solidarisiert. Bei keiner jedoch fand ich ein solches Maß an gleichartigem Empfinden mit dem meinen, dem jüdischen, wie bei Armeniern. So vieles, was in ihnen vorgeht, geht auch in mir vor, in Sonderheit, was die armenischen Überlebenden des Völkermords betrifft, denen zu begegnen ich die Ehre hatte. Ihre allgegenwärtigen Erinnerungen an die Schrecken von einst, die unvergessliche Angst vor dem jederzeit möglichen Gewalttod – es sind die eigenen, es sind meine Ängste, die ich in ihnen wiederfand. Auch den Teil in mir, der mit den ermordeten Juden gestorben ist, auch dieses schwarze Loch habe ich bei den armenischen Überlebenden entdeckt. Und noch etwas – die Trauer der Tränenlosigkeit. Und das nicht nur, weil kein Mensch ein ganzes Leben lang Tränen vergießen kann, sondern weil sie alle vergossen sind. So weinen wir gemeinsam – nach innen.

Bei den nachgewachsenen Generationen der Söhne und Töchter habe ich die gleiche Nähe der elterlichen und großelterlichen Schatten gefunden, die gleiche Pflicht, die Erinnerungen wachzuhalten. Wie ich auch bei den Enkelinnen und Enkeln jenen tiefen Ernst aufspüre, den ich von jüdischen Kindern kenne, und wie ihn nur ein kollektiver Schmerz erzeugen kann.
All das zusammen sind Ingredienzen, die die armenische Sache zur meinen gemacht haben. Das heißt: mitzuhelfen, den Völkermord an den Armeniern in die Annalen der Menschheitsgeschichte einzubringen. Das sollte das Gebot der Stunde angesichts der 95. Wiederkehr des Stichdatums vom 24. April 1915 sein: Solidarität zwischen Menschen, deren Vorfahren die Opfer zweier Völkermorde des 20. Jahrhunderts geworden und deren Gemeinschaften auch in unserer Gegenwart bedroht sind. Ich appelliere an die Internationale Humanitas, sich bundesgenössisch hinter die beiden armenischen Grundforderungen an die Türkei zu stellen: Anerkennung des Völkermords und freier Zugang zur armenischen Urheimat.
Von dort klagt es stumm herüber, eine schwere, atemverschlagende Traurigkeit. Jahrtausendealtes armenisches Land, der Urgrund des armenischen Volkes, Mutterboden seiner Kultur und Geschichte – begraben unter Schweigen. Wo einst armenisches Leben pulsierte – nun entdachte Siedlungen, zerbrochene Heiligtümer, grasbewachsene Zeugen armenischer Hochkultur.

Trauerzeichen Ich zitiere aus dem Buch In den Ruinen der armenischen Schriftstellerin Zabel Yessaian, beim Anblick des noch rauchenden Adana nach einem Pogrom: »In dieser zerstörten Stadt erhob sich nun der hohe Turm der armenischen Kirche, als blicke er auf die Ruinen um ihn herum. Und die stumme Turmuhr hing wie eine gelähmte Zunge, denn seit dem Tag der Katastrophe waren ihre traurigen wie ihre frohen Schläge verstummt – zum Zeichen der Trauer.«

Aber wir sollten ihr nicht so ganz glauben, dieser Stille – glauben wir ihr nicht. Denn von dort dröhnt es herüber, dieses Schweigen brüllt, diese Stummheit klirrt – von den Stimmen der Toten und Ermordeten, der Geschändeten, Verbrannten und Gekreuzigten. Ein riesiger Schrei grollt von dort über die Erde und ruft Namen auf – armenische Namen – ein Chor, den keine Macht mehr ersticken kann.

»Ein riesiger Tsunami rollt auf uns zu – der armenische Tsunami. Die Existenz des Themas zu leugnen, reicht nicht mehr.«
Wer das geschrieben hat? Mehmet Ali Birand, einer der bekanntesten türkischen Kolumnisten. Ich verlasse diesen Platz nicht, ohne mich einer Ehrenpflicht entledigt zu haben: Dank an den Autor einer Fernsehsendung von 90 Minuten, eines mächtigen Zeitdokuments über den Völkermord an den Armeniern, vor einigen Tagen ausgestrahlt von der ARD/NDR und von Phoenix – Aghet betitelt, auf deutsch Katastrophe.

Als meine Sendung ausgestrahlt wurde, am 21. April 1986, sind 30.000 Türken unter wüsten Drohungen gegen den Westdeutschen Rundfunk gezogen, während Ankara und die türkische Botschaft versuchten, die Sendung abzusetzen – vergeblich. Der damalige WDR-Intendant, Friedrich Nowottny, klein von Statur, innen aber ein widerständiger Riese, stand für die Meinungsfreiheit. Diesmal hatten die Verneinungsstrategen es schwerer, aus ihren Löchern zu kommen, diesmal blies ihnen der Wind von vorn ins Gesicht, blieb ihnen nichts als die hilflosen Wiederholungen ihrer abgenutzten Rhetorik.

Ehre Da hat nun ein anderer Autor den Stab übernommen, ein junger Mann, aus einer neuen Generation, der wusste, worauf er sich einließ. Er hat ein Werk geschaffen, das mich bis ins Mark erschüttert hat, und ich glaube, die armenische Gemeinschaft auch. Ich habe ihn deshalb hierher gebeten, er ist unter uns, heißt Eric Friedler und soll sich Ihnen jetzt zeigen. Du hast einmal gesagt, Du seist mein Schüler und ich Dein Lehrer. Wenn das so ist, dann lass Dir sagen: Ich bin stolz darauf. Ich danke meinen armenischen Freunden für die hohe Ehre, an diesem Tag hier sprechen zu dürfen. Und schließe meine Rede zum 95. Gedenktag, wie ich die zum 90. vor fünf Jahren geschlossen habe: mit unserer Antwort auf eine Frage Adolf Hitlers, die er wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, am 22. August 1939, bei einer blutrünstigen Ankündigung kommender Verbrechen vor den Kommandeuren seiner SS-Todesschwadronen und Wehrmacht-Generälen gestellt hat – die Frage: »Wer spricht denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?«

Wer? Wir! Atome jenes schlaflosen Gewissens der Menschheit, das so viel Ausdauer braucht, um nicht zu sterben.
Und doch, trotz allem, lebt eine Hoffnung in mir, verdeckt, aber glimmend: 2015, zum 100. Gedenktag, von dieser erhabenen Stätte aus verkünden zu können: »Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist globalisiert, ein Sog, dem sich auch die Türkei nicht entziehen konnte« – das ist meine Hoffnung!
Es lebe die armenische Sache!
Es lebe die armenische Republik!
Es lebe die armenische Kirche!
Es lebe das armenische Volk, dieser kleine Fetzen Menschheit!
Es lebe – Hayastan!

München

Bayerns Ministerpräsident Söder übt scharfe Kritik am Haftbefehl gegen Israels Premier Netanjahu

»Das Gericht hat sich massiv selbst beschädigt«, betont der CSU-Politiker - und gab eine klare Antwort auf die Frage, ob Netanjahu auf deutschem Boden verhaftet werden sollte

 24.11.2024

Gemeinden

Blick auf ein besonderes Jahr

Die Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagte in München. Für große Begeisterung im Saal sorgte die Rede des Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder

von Katrin Richter  24.11.2024

Vereinte Arabische Emirate

Chabad-Rabbiner in Dubai vermisst

Berichten zufolge könnte der Rabbiner durch den Iran entführt oder ermordet worden sein

 24.11.2024

Kriminalität

»Schwachkopf«-Post zu Habeck: Jetzt melden sich die Ermittler zu Wort

Ein Mann soll Wirtschaftsminister Habeck im Netz beleidigt haben. Dass dann die Polizei zu Besuch kam, sorgte nicht nur im Umfeld des Vizekanzlers für Verwunderung. Die Ermittler liefern Erklärungen

von Frederick Mersi  22.11.2024

Antisemitismus

Polizei sucht nach Tatverdächtigem vom Holocaust-Mahnmal

Der Mann soll einen volksverhetzenden Text in das dortige Gästebuch geschrieben haben

 22.11.2024

Debatte

Theologen werfen Papst einseitige Sicht auf Nahost-Konflikt vor

Ein Schreiben von Papst Franziskus zum Nahost-Krieg enthalte einen »blinden Fleck im Denken«

 22.11.2024

Debatte

CDU-Ministerpräsident verurteilt Haftbefehl gegen Netanjahu

»Völlig ausgeschlossen, dass ein demokratisch gewählter Ministerpräsident aus Israel auf deutschem Boden verhaftet wird, weil er sein Land gegen Terroristen verteidigt«

 22.11.2024

CDU/CSU

Unionspolitiker: Verhaftung von Netanjahu auf deutschem Boden »unvorstellbar«

Die größte Oppositionsfraktion kritisiert die fehlende Haltung der Bundesregierung

 22.11.2024

Den Haag

Der Bankrott des Internationalen Strafgerichtshofs

Dem ICC und Chefankläger Karim Khan sind im politischen und juristischen Kampf gegen Israel jedes Mittel recht - selbst wenn es unrecht ist. Ein Kommentar

von Daniel Neumann  22.11.2024