München

»Die große Masse sagt nichts gegen Judenhass«

Eine Kundgebung für eine Freilassung der Hamas-Geiseln soll die größte ihrer Art werden

von Imanuel Marcus  20.09.2024 13:10 Uhr

Guy Katz organisiert die Demonstration mit Jil Meiteles (l.).

Eine Kundgebung für eine Freilassung der Hamas-Geiseln soll die größte ihrer Art werden

von Imanuel Marcus  20.09.2024 13:10 Uhr

Am 6. Oktober wollen der Betriebswirt Guy Katz und seine Mitstreiterin Jil Meiteles in München die größte Solidaritätsdemo für eine Freilassung der Geiseln des palästinensischen Terrors auf die Beine stellen, die Deutschland bisher gesehen hat. Viel Prominenz hat sich angemeldet. Ein Gespräch.

Herr Katz, wie wollen Sie es schaffen, viele Teilnehmer für die Kundgebung zum Jahrestag der Massaker zu motivieren?
Wir haben in München unsere »Run for their Lives«-Gruppe – die erste in Europa und weltweit die größte von über 200 –, mit der wir jede Woche auf der Straße sind. Als Organisatoren haben wir gesehen, dass es viele Leute gibt – vor allem Nichtjuden –, die mit uns laufen und die am 6. Oktober wohl dabei sein werden. Wir haben es außerdem geschafft, alle jüdischen Organisationen zusammenzubringen, von Makkabi über B’nai, B’rith bis hin zu Keren Hayesod. Hinzu kommen alle jüdischen Gemeinden in Bayern, die ihre Leute mobilisieren werden – und eben auch der Zentralrat der Juden. Wir haben auch alle demokratischen Parteien auf unserer Seite, nämlich SPD, FDP, Grüne und CSU. Es geht darum, dass sich Juden und Nichtjuden endlich zusammen gegen den Antisemitismus aussprechen.

Josef Schuster, der Präsident des Zentralrates der Juden, kommt zur Kundgebung – ebenso wie Ministerpräsident Markus Söder. Wer ist noch dabei?
Der Zweite Bürgermeister Münchens, Dominik Krause (Bündnis 90/Die Grünen), kommt. Der ist übrigens schon öfter mit uns für eine Freilassung der Geiseln gelaufen. Ich habe sowohl den Bundeskanzler als auch den Bundespräsidenten angeschrieben. Bei den Themen Geiseln in Gaza und Antisemitismus kann man nicht übertreiben.

Sie kennen die Schauspielerin Uschi Glas. Kommt auch sie?
Ja. Sie ist eine gute Freundin geworden. Uschi Glas läuft jede Woche mit, weil sie sagt, was in Israel passiert ist, ist einfach nicht okay. Für mich hat dies nichts mit Politik zu tun. Wir sehen uns als unpolitisch. Uns geht es nicht darum, wer recht hat. Israel? Palästina? Nein. Es geht nur um eine Verurteilung des Antisemitismus und die Forderung nach einer Freilassung der Geiseln. Bei diesen zwei Themen haben wir eine breite Masse, die hinter uns steht. Mittlerweile sind sogar der FC Bayern München und Fans dabei. Wir versuchen, wirklich alle zu mobilisieren. Mal schauen. Wie viele Menschen werden wohl am 6. Oktober kommen?

Wie kommt es Ihrer Meinung nach, dass israelfeindliche Pro-Terror-Demonstrationen in der Regel weitaus größer sind, als pro-demokratische Versammlungen, die sich mit den Geiseln und Israel solidarisieren?
Was mich gerade in Deutschland stört: München ist ganz offiziell gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Das steht mittlerweile auf jedem Bus und Müllwagen. Aber die große Masse sagt nichts gegen Judenhass. Wenn wir allerdings sagen, es geht gegen die AfD und andere Rechtsextreme, stehen auf einmal unzählige Menschen auf der Straße. Ich glaube aber, dass der Linksextremismus und der islamistische Extremismus für uns Juden viel gefährlicher sind.

Bei den »Run for their Lives«-Demos macht stets eine große Gruppe mit. Aber die großen Massen, also 70, 80 oder 90 Prozent der Deutschen, sagen nichts. Warum ist das so? Ich weiß es nicht. Warum kam es zum Zweiten Weltkrieg? Es muss sehr ähnlich gewesen sein. Ich glaube, die Deutschen trauen sich aktuell nicht zu, etwas zu sagen. Sie wollen keine Fehler machen und sagen dann lieber nichts. Ich glaube zwar nicht, dass die Mehrheit hier israelfeindlich ist. Aber die Hasser schreien ganz schön laut. Und die Mehrheit sagt gar nichts, weder für uns noch gegen uns. Und das ist das eigentliche Problem. Wir wollen dies am 6. Oktober ändern.

Sie sagten, Ihre Initiative und ihre Forderungen seien unpolitisch. Wieso?
Viele verbinden uns gleich mit Israel. Ich finde, man muss keine pro-israelische Position einnehmen, um gegen Antisemitismus zu sein. Kritik an der israelischen Regierung ist legitim. Sie ist aber eine demokratisch gewählte Regierung des einzigen jüdischen Staates. Hier muss man unterscheiden. Das heißt: Gegen Entführungen zu sein oder gegen die Gräueltaten der Hamas zu sein, ist für mich nicht politisch, sondern nur menschlich.

Wir laufen mit roten T-Shirts, weil wir sagen: Du brauchst nur ein Herz zu haben, um die Gräueltaten vom 7. Oktober zu verurteilen. Genauso ist es mit Antisemitismus. Du kannst sagen, Bibi Netanjahu hat recht oder unrecht. Das ist mir ehrlich gesagt egal. Aber wenn mein Sohn nicht mit einer Kippa herumlaufen kann, wenn ich ihm sagen muss, dass er seinen Davidstern in der U-Bahn verstecken soll – oder wenn meine Freunde ihre Klingelschilder wechseln müssen, weil sie jüdische Nachnamen haben –, dann geht dies zu weit. Für mich ist dies keine politische Frage.

Guy Katz: »Ich musste einfach etwas tun, als Israeli und Deutscher.« Foto: Hochschule München - Alexander Ratzing

Wie gestaltet sich die Situation in Zusammenhang mit Judenhass in München? Nimmt sie Berliner Formen an – mitsamt No-Go-Areas und Angriffen auf Menschen, die Hebräisch sprechen, Davidsterne an Ketten tragen oder anderweitig als Juden erkennbar sind? Was ist an den Unis los?
Ich glaube, wir haben zwar weniger Vorfälle in Berlin, aber auch hier kam es zu entsprechenden Angriffen auf Menschen, die Kippot trugen. Ein Rabbiner wurde in einer U-Bahn-Station angegriffen. Also: Dies gibt es hier leider auch. Aber die Landesregierung und die Polizei haben die Lage besser im Griff. Der Antisemitismusbeauftragte der Polizei arbeitet richtig hart. Es gibt einen Antisemitismusbeauftragten der bayerischen Justiz, der ganz tolle Arbeit macht.

Trotzdem haben wir Vorfälle an Unis. An meiner Uni wurde gegen mich gehetzt – in internen WhatsApp-Gruppen von Studenten, um ein Beispiel zu nennen. Und diese »propalästinensischen« Proteste an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) dauern an. Laut Gerichtsurteil dürfen sie protestieren, obwohl sie wirklich krass antisemitisch sind und gegen Israel hetzen: Israel bringe palästinensische Babys um und klaue Organe, sagen sie. Und das ist ja die Urform des Antisemitismus.

Mit den Uni-Präsidenten spreche ich. Sie sagen, sie könnten nichts machen. Das ist auch bei den Professoren so: Die meisten sagen nichts, obwohl sie längst den Mund hätten aufmachen müssen. Es ist wie beim Rest der Bevölkerung.

Bereits vor dem 7. Oktober kannten wir antisemitische Demonstrationen. Auch gab es Über- und Angriffe mit antisemitischer Motivation. Was wir aber seither an Judenhass erleben, sprengt alles. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Ich bin eigentlich Betriebswirt und auch ich wurde seit 7. Oktober zum Israel- und Antisemitismusexperten. Leider, durch diesen Zwang. Ich kümmere mich um das Thema der Geiseln und um Antisemitismus. Außerdem helfe ich der bayerischen Polizei. Wir haben jetzt ein Schulungskonzept für Antisemitismusbeauftragte an Hochschulen entwickelt, die es übrigens jetzt an jeder bayerischen Uni geben wird. Das ist wieder ein Super-Beispiel dafür, dass Bayern wirklich versucht, etwas zu machen. Also bin ich wirklich stolz auf mein Bundesland.

Gab es Antisemitismus vorher? Wahrscheinlich schon, aber eher unterschwellig oder im Hintergrund. Seit dem 7. Oktober ist Judenhass salonfähiger geworden. Ich habe wirklich keine andere Erklärung. Der Fokus ist in diesem Land zu sehr auf Rechtsextremismus, während der Judenhass von links und aus islamistischen Kreisen zu wenig beachtet wird.

Mit meiner Gruppe war ich am Weltfrauentag vor dem Münchner Rathaus, wo wir für die Freilassung der weiblichen Geiseln demonstriert haben. Diese Frauen sind weiterhin in Gaza und wer weiß, was mit ihnen passiert. Wahrscheinlich werden sie vergewaltigt. Dennoch wurden wir angefeindet bis wir gehen mussten – von linksradikalen Gruppen, am Weltfrauentag.

Sie haben Erfahrung mit der Organisation von Demos und Kundgebungen, denn seit November 2023 sind Sie mit Ihrer Gruppe »Run for their Lives« unterwegs. Wie erfolgreich sind diese Solidaritäts-Demos?
»Run for their Lives« wurde von Israelis initiiert. Ende Oktober 2023 ging es in den USA los. Wir, Jil Meiteles und ich, haben die Initiative nach Europa gebracht. Wir waren hier die ersten und mittlerweile sind wir weltweit die größte »Run for their Lives«-Gruppe.

Bis Oktober hatte ich nicht an einer einzigen Demonstration teilgenommen. Aber ich musste einfach etwas tun, als Israeli und Deutscher. Es geht hier um diese Ungerechtigkeit mit den Geiseln. Im Lauf der Zeit ging es darüber hinaus immer mehr um ein Aufstehen gegen den Antisemitismus.

Die große Solidaritätsdemonstration am 6. Oktober findet auf dem Odeonsplatz statt. Welche Bedeutung hat dieser für Juden?
Auf diesem Platz würden Bücher verbrannt. Außerdem fand dort der erste gescheiterte Hitlerputsch statt. Am 6. Oktober werden auch Markus Söder, Dominik Krause und Uschi Glas auf dem Odeonsplatz sprechen. Dann gehen wir spazieren – wie immer.

Demonstration »364 Tage 7. Oktober – München gegen Antisemitismus»
Sonntag, 6. Oktober, 16.00 Uhr
Odeonsplatz, München

Nähere Informationen sind auf dieser Webseite verfügbar.

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