Deutschland hat Angst», so lauteten die Schlagzeilen der vergangenen Woche. Obwohl es den meisten Deutschen derzeit wirtschaftlich so gut geht wie lange nicht mehr, steigt laut einer aktuellen Umfrage des Allensbach-Instituts bei den 30- bis 59-Jährigen die Angst vor sozialen Unterschieden, Terror, Fremdenfeindlichkeit und Flüchtlingszuwanderung.
Wir alle haben Angst, denn Angst ist ein Grundgefühl. Menschen ohne Angst sind entweder Narren oder Soziopathen. André Malraux, der französische Schriftsteller und Politiker, hat recht: «Angst kann man in sich immer finden. Man muss nur tief genug suchen.»
In der digitalen Turbogesellschaft muss man nicht tief bohren, um fündig zu werden. Immer mehr Menschen fühlen sich aufgrund der radikalen, schnellen und chaotischen Veränderungen gestresst, geängstigt und abgehängt. Sie orten sich nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft, sondern sehen sich an den Rand gedrängt. Angst vor einem sozialen Abstieg, vor Altersarmut und vor der Zukunft sind keine spezifischen Symptome einer «German Angst». Es sind natürliche Reaktionen auf die komplexen Herausforderungen und Belastungen, mit denen wir täglich konfrontiert werden.
flüchtlinge Wir alle haben noch die Bilder vor Augen, wie Flüchtlinge vor einem Jahr freudig willkommen geheißen wurden: «Refugees welcome!» Es war ein schon – im wahrsten Sinne des Wortes – grenzenloser Wille, alle Menschen hier aufnehmen zu wollen. Für einen Moment war die deutsche Nation vereint und erleichtert, beinahe euphorisch. Die Wertegemeinschaft der Menschlichkeit und Solidarität schien die Menschen zusammenzuschweißen, und die Kanzlerin sprach ihnen Mut zu.
Aus psychologischer Sicht war jedoch absehbar: Spätestens wenn die Ernüchterung der Euphorie weicht, wird sich eine Frustration breitmachen, die in Resignation oder Aggression ausarten wird. Angst um den Verlust des Status quo ist ein gesunder Reflex. Individuelle und kollektive Gefühle von Unsicherheit, Ungewissheit und Überforderung sind weder neurotisch noch spezifisch deutsch, sie sind nachvollziehbar.
In Anbetracht dieses epochalen gesellschaftlichen Kraftaktes ist es unabdingbar, dass die Regierung dem deutschen Volk – ganz nach dem deutschen Reinheitsgebot – reines Bier einschenkt. Nicht allen wird das Bittere, Hochgärige und Schäumende schmecken. Wenn die Politik nicht nachvollziehbar ist, Politiker keine Zukunftsperspektiven aufzeigen können, die Kommunikation mehr vernebelt als aufklärt, eher verunsichert als beruhigt, bleiben die Bürger ratlos und irritiert zurück. Warum sollen enttäuschte Wähler Politiker Glauben schenken, wenn diese sich nicht die Mühe machen, zu überzeugen.
vorurteile Die AfD weiß dies geschickt zu nutzen. Sie stellt unsere Demokratie auf die Probe. Sie schürt gezielt Ängste und Vorurteile gegen Demokraten, gegen alle Andersdenkenden. Die AfD ist so stark, weil die große Koalition schwächelt. Die Angst, Deutschland sei ein Auslaufmodell, wird derzeit von Populisten gezielt genutzt, um Ängste und Hilflosigkeit in Wählerstimmen umzuwandeln. Das gelingt am besten der AfD. Sie ist eine Angstpartei. Sie bündelt die Ängste, verleiht ihnen eine plakative Stimme und verspricht Lösungen für Probleme, die sie herbeiredet.
Solange die Regierung keine gemeinsame, überzeugende Integrationspolitik zustande bringt, so lange wird die AfD wachsen und den etablierten Parteien verunsicherte, verängstigte Wähler abwerben. Alle, die jetzt bei der AfD ihr Kreuz machen, wählten früher die etablierten Parteien.
Anstatt die alten Wähler zu dividieren, steckt man sie reflexartig in die rechte Schublade. Dämonisierung eint die heterogene Truppe der AfDler. Die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern war eine Protestwahl und ein Weckruf. Ob die Regierung aufwacht, wird sich spätestens in Berlin zeigen.
menschlichkeit In einer Demokratie ist dem Volk die Wahrheit zuzumuten. Und das Volk verlangt Rechenschaft. Menschlichkeit fordert ihren Preis. Anstatt Ermutigungen Klartext: Es wird viel Zeit, Geld und Engagement notwendig sein, um den Flüchtlingen zu ermöglichen, hier kurzfristig Fuß zu fassen oder gar sich zu integrieren. Eine resiliente Demokratie erfordert nicht nur engagierte und couragierte Bürger. Der Staat seinerseits muss entschlossener als in der Vergangenheit alle Rechtsmittel gegen kriminelle Wutbürger ausschöpfen und mit aller Konsequenz gegen den rechten Terror vorgehen.
«Deutschland, Angstland?» lautete der Titel der Allensbach-Studie. Die Überschrift ist zwar knackig, greift jedoch zu kurz. Der Gemütszustand der Deutschen lässt sich nicht auf den Begriff Angst reduzieren. Deutschland hat sich selbst und der Welt gezeigt, was Menschlichkeit bedeutet. Jetzt muss es zeigen, wie sich spontane, unbürokratische Menschlichkeit in solide, konsens- und zukunftsfähige Politik ummünzen lässt. Bei allen berechtigten Ängsten und Sorgen, wie diese sein wird, bleibt eines klar: Die deutsche Demokratie ist robust und wird sich bewähren.
Der Autor ist Psychologe, Stress-Experte und Coach in München.