Herr Steinitz, der Anschlag auf den Studenten vor der Hamburger Synagoge Hohe Weide wirft erneut die Frage auf: Wie konnte das geschehen – ein Jahr nach dem Attentat in Halle?
Als Bundesverband RIAS haben wir seit 2018 mehrere Fälle extremer antisemitischer Gewalt in sechs verschiedenen Bundesländern registrieren müssen. Darunter verstehen wir physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder schwere Körperverletzungen darstellen. Im Jahr 2018 gab es einen solchen Vorfall, im Jahr 2019 drei und in diesem Jahr schon zwei Vorfälle. Das ist eine erschreckende Übersicht. Wir müssen uns aber auch im Klaren darüber sein, dass die antisemitische Weltsicht in letzter Konsequenz immer auf die Eliminierung der Juden und des jüdischen Staates abzielt. Solche extrem gewalttätigen Angriffe sind Teil des Antisemitismus, mit dem wir uns täglich auseinandersetzen müssen.
Diese Anschläge sind also erwartbar ...
Wenn man sich die Reaktionen der jüdischen Gemeinden und des Zentralrats nach dem Anschlag zu Jom Kippur im Oktober vergangenen Jahres anschaut, dann war doch relativ deutlich zu sehen, dass alle zwar schockiert, aber nicht überrascht waren. Von jüdischer Seite wurde seit langer Zeit auf die Gefahr, die von Antisemiten ausgeht, aber auch auf unzureichende Sicherheitsvorkehrungen bei den Gemeinden in Sachsen-Anhalt hingewiesen. Dann ist es passiert, es gab ein großes Entsetzen in der Gesellschaft. Aber die Tendenz zunehmend verrohter antisemitischer Ausdrucksformen und gezielter Anfeindungen gegenüber Jüdinnen und Juden – und das können wir als Dokumentationsstelle auch durch Zahlen belegen – ist eine, die sich lange schon angekündigt hat. Seit Januar 2017 sind uns als »Tatort Synagoge« 61 Vorfälle im gesamten Bundesgebiet bekannt geworden. Das sind – neben den beiden Fällen extremer Gewalt in Hamburg und Halle – auch weniger gravierende Angriffe, gezielte Sachbeschädigung, Bedrohungen und verletzendes Verhalten.
Der Hamburger Rabbiner Shlomo Bistritzky sagte am Sonntag: »Wir möchten jetzt keine Solidarität, wir wollen Taten!« Reagieren Politik und Sicherheitsbehörden zu träge?
Wenn die Warnungen, Ängste und Sorgen der jüdischen Gemeinden früher wahrgenommen – auch gerade von Sicherheitsbehörden –, ernst genommen und nicht auf die lange Bank geschoben worden wären, dann hätten wir sicher auch robustere Situationen, die auch kleineren Gemeinden und deren Mitgliedern ein anderes Sicherheitsgefühl vermitteln würden. Gerade wurde eine neue Vereinbarung zwischen der Landesregierung Sachsen-Anhalts und dem Landesverband unterzeichnet: kurz vor der Jahresfrist. Aus unserer Sicht ist es fatal, dass so langsam agiert wird, dass die Zuständigkeiten zwischen den Ressorts hin- und hergeschoben werden. Was die Gesellschaft und auch gesellschaftliche Minderheiten mehr brauchen als solidarische Worte, sind konkrete Taten. Es muss auf allen Ebenen konsequent gegen jede Form des Antisemitismus agiert werden, auch niedrigschwellige judenfeindliche Vorfälle müssen möglichst aus der Gesellschaft heraus verurteilt werden. Hinzu kommt, dass unbedingt auch das mitunter fehlerhafte und unsensible Agieren von Polizei und Justiz auf den Prüfstand gehört.
Inwiefern?
Wenn Holger Stahlknecht, der Innenminister Sachsen-Anhalts, nach dem Anschlag an Jom Kippur das Verhalten der eingesetzten Polizisten als gut beschreibt, dann ist das eine fehlende Bereitschaft, die Missstände zu erkennen, anzuerkennen und zu verbessern. Dass Innenminister Stahlknecht, wie vor wenigen Tagen in Dessau geschehen, die notwendigen Arbeitsstunden für den polizeilichen Schutz jüdischer Gemeinden anführt, um die polizeiliche Unpünktlichkeit bei anderen Belangen zu rechtfertigen, lässt schon sehr tief blicken! Ein Jahr nach dem Anschlag an Jom Kippur zeigt sich hier trauriger Weise zweierlei: Der Innenminister ist seiner besonderen Verantwortung, für den adäquaten Schutz jüdischer Hallenser, Dessauer und Magdeburger Sorge zu tragen und diesen den Medien und der Bevölkerung verständlich zu machen, nicht gewachsen. Darüber hinaus leistet er sogar den gesellschaftlich weit verbreiteten antisemitischen Ressentiments von einer vermeintlichen Sonderbehandlung der Jüdinnen und Juden noch Vorschub.
Nach dem Attentat in Halle haben einige Bundesländer und auch der Bund finanzielle Hilfen zugesichert, um die Sicherheit der Gemeinden zu erhöhen. Reichen diese nach außen sichtbaren Maßnahmen?
Wir müssen konstatieren, dass jüdisches Leben und jüdische Einrichtungen beschützt werden, weil sie permanent potenzielle Ziele von antisemitischen Tätern sind. Nach solchen Vorfällen wie in Hamburg haben Menschen die berechtigte Sorge, ob die Sicherheit im Ernstfall gewährleistet wird. Gemeindemitglieder stellen sich die Frage, ob sie ihrem jüdischen Leben unversehrt nachgehen können. Das Ausmaß von Judenhass im Alltag hat bereits jetzt Auswirkungen darauf, wie offen sich Jüdinnen und Juden als solche zu erkennen geben. Die Vorfälle in Hamburg und auch im vergangenen Jahr in Halle sind nur die Spitze des Eisbergs. Vor allem die niedrigschwelligeren Formen sind für die Betroffenen alltagsprägend.
Wird Antisemitismus zu oft als »Einzeltat eines Verwirrten« heruntergespielt?
Wir schließen uns der Einschätzung der Jüdischen Gemeinde Hamburg an, die diese Tat ganz klar als antisemitischen Anschlag versteht. Der Täter hat an einem jüdischen Feiertag bewusst den Weg zur Synagoge gewählt, um vor Ort einen jüdischen Studenten, der durch seine Kippa auch als solcher zu erkennen war, mit einem Spaten so schwer wie möglich zu verletzen. Die Auswahl des Datums und des Ortes sagt einiges darüber aus, dass bei dem Täter ein sehr klares antisemitisches Feindbild vorzuliegen scheint. Das Gleiche trifft auch auf den Attentäter von Halle zu: Er wusste genau, dass an Jom Kippur mehr Leute in der Synagoge sind als an anderen Tagen im Jahr. Aus diesem Grund wählte er diesen Tag, um möglichst viele Juden zu töten. Das hatte er auch vor Gericht gesagt.
Was sagen diese Taten über die Gesellschaft aus?
Für uns sind sie Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die auf eine zunehmende Verrohung, eine zunehmende Ausdehnung der Sagbarkeitsgrenzen antisemitischer Positionen und ein Fallen der Hemmschwellen, Gewalt gegen Jüdinnen und Juden anzuwenden, zurückzuführen ist. Wenn bei den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie offen immer wieder Verschwörungserzählungen rund um »die Rockefellers«, »die Rothschilds« oder Israel in Umlauf gebracht werden, dann ist das die Sichtbarkeit eines jahrhundertealten antisemitischen Denk- und Weltbildes. Zum Teil bleiben diese Aussagen ja unwidersprochen stehen. So werden antisemitische Narrative gesellschaftlich immer mehr normalisiert.
Der Hamburger Senat will einen Antisemitismusbeauftragten für die Stadt benennen: Stimmen Sie zu?
Natürlich wäre die seit einigen Monaten geplante Einsetzung eines Antisemitismusbeauftragten ein wichtiges Signal, aber es braucht vor allem ein gutes, jüdische Akteure, Zivilgesellschaft und Wissenschaft einbeziehendes Konzept, auf dessen Grundlage ein Antisemitismusbeauftragter auch effektiv arbeiten kann.
Mit dem Gründer und Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) sprach Katrin Richter.