27. Januar

»Die Geschichte ist gegenwärtig«

Stehende Ovationen für Charlotte Knobloch: Fast eineinhalb Minuten applaudieren die Abgeordneten des Bundestags nach der Rede der 88-Jährigen bei der Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus.
Knobloch ist eine erfahrene Rednerin; sie sprach vor zwei Jahren als Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern zum Gedenktag des 27. Januar im Bayerischen Landtag. Damals hatte ein Großteil der AfD-Fraktion noch während ihrer Rede den Saal verlassen und einen Eklat inszeniert.

Doch Knoblochs sehr persönliche und zugleich politische Ansprache am 27. Januar 2021 vor dem Bundestag in Berlin ist nichts Geringeres als die Rede ihres Lebens. Vom ersten Satz an (»Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche«) verknüpft Charlotte Knobloch persönliche und politische Erfahrungen in einer Weise, die Zuschauern im Plenarsaal und zu Hause am TV-Bildschirm die Tränen in die Augen treibt.

KIND Sie sehen nicht nur die 88-Jährige, sondern das Kind, das sie einmal war. Das Mädchen aus München, das mit vier Jahren verlassen wurde – weil die eigene Mutter die gesellschaftliche Missbilligung ihrer Ehe mit einem Juden nicht aushielt. »Was blieb, war Schmerz«, sagt Charlotte Knobloch, Jahrgang 1932, mit einem ganz leichten Zittern in der Stimme.

Und am Rednerpult steht auch die Enkelin, die als Neunjährige wusste, dass ihre geliebte Großmutter Albertine Neuland sich opferte, als eines der Familienmitglieder nach Theresienstadt deportiert werden sollte: »Großmutter oder ich müssen in den Zug. Meine starke Großmutter trifft augenblicklich die unmögliche Entscheidung. (…) Der schwerste Moment meines Lebens: Großmutter sagt, sie gehe zur Kur und komme bald zurück. Ich weiß, was das bedeutet.« An dieser Stelle wird Charlotte Knobloch von ihren Gefühlen überwältigt, gerät ins Stocken. Es dauert einen Moment, bis sie weiterspricht.

Im aktuell-politischen Teil ihrer Rede nimmt sie allen, die vielleicht auf eine Gelegenheit zu einem neuen Eklat gehofft haben, den Wind aus den Segeln. »Ich spreche Sie nicht pauschal an!«, sagt sie in Richtung der »ganz rechten Seite« des Plenums. »Vielleicht ist der eine oder andere noch bereit zu erkennen, an welche Tradition da angeknüpft wird. Zu den Übrigen in Ihrer ›Bewegung‹: Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen, und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen.« »Ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren!«

Viele Abgeordnete klatschen zwischen den Sätzen. Diesmal verlässt niemand den Saal. Die AfD-Abgeordnete Alice Weidel kann sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen. Aber zum Schluss applaudiert sogar AfD-Fraktionschef Alexander Gauland der Rednerin Charlotte Knobloch.
Eine Schoa-Überlebende und Gemeindemitglied aus München sagt über die Rede: »Alle, mit denen wir gesprochen haben, waren begeistert – auch Leute, die sonst viel Kritik an ihr üben. Diese kleine alte Frau stand in der Mitte dieses riesigen Saals – und mit allem, was sie gesagt hat, ist sie sehr groß geworden.«

Die zweite Rednerin schlägt die Brücke zur jüngeren Generation.

Vor 25 Jahren hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee 1945, zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt.
In diesem Jahr gibt es zwei jüdische Rednerinnen bei der Gedenkstunde im Bundestag: Nach Knobloch spricht die Grünen-Politikerin Marina Weisband (vgl. S. 8).

Und um jüdisches Leben nachdrücklich zu schützen, folgt eine besondere Zeremonie, sie wird nach den Reden aus dem Andachtsraum in den Plenarsaal übertragen. Rabbiner Shaul Nekrich schreibt die letzten fehlenden Buchstaben in die Sulzbacher Torarolle von 1793, die Rabbiner Elias Dray vor einigen Jahren in Amberg wiederfand (vgl. S. 1). Die Vertreter der Verfassungsorgane, darunter Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, sowie Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, halten eine Holzstange der Torarolle, während der Rabbiner die letzten Buchstaben mit dem Federkiel schreibt. Sie übernehmen damit die Patenschaft für die Tora, die den Kern des Judentums darstellt – nicht zuletzt mit dem Gebot: »Erinnere dich!«.

PANDEMIE Unter den Bedingungen der Corona-Pandemie ist die Gedenkstunde im Bundestag eine doppelte Herausforderung. Alle Teilnehmer tragen medizinische Masken, nach jeder Rede wird das Pult desinfiziert. Zwischen den Abgeordneten und Gästen im Plenarsaal – neben Zentralratspräsident Schuster auch sein Stellvertreter Abraham Lehrer – bleiben viele Sitze leer. Deutlich weniger Rabbiner und Vertreter des jüdischen Lebens als in den Vorjahren sind anwesend.

Bundestagspräsident Schäuble, der bei der Veranstaltung als Erster spricht, nimmt darauf Bezug: »Viele Gäste, die wir gern bei uns gehabt hätten – unter ihnen Überlebende der Konzentrationslager –, können die Gedenkstunde leider nur aus der Ferne verfolgen. Sie alle sollen wissen: Wir sind in Gedanken auch bei Ihnen, gerade an diesem besonderen Tag«, sagt er.

Vertreter der Verfassungsorgane sind Paten der Sulzbacher Torarolle.

Schäuble spricht zum Auftakt das Jubiläumsjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« an – und im Lauf seiner Rede alle Verfolgten des Nationalsozialismus. »Wir gedenken der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der slawischen Völker, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Kriegsgefangenen und aller dem Hungertod Ausgelieferten. (…) Wir erinnern an das Leid von Homosexuellen, an die Menschen mit Behinderungen und an das Schicksal der als ›Asoziale‹ Ausgestoßenen. Wir verneigen uns vor jedem Einzelnen«, sagt er.

Anschließend stellt der Bundestagspräsident fest, die jüngere Generation deutscher Juden verwahre sich dagegen, »ausschließlich in eine Opferrolle gedrängt zu werden. Junge Juden wollen als selbstverständlicher Teil einer vielfältigen deutschen Gegenwart leben – und wahrgenommen werden. Dennoch ringen viele von ihnen mit der Unmöglichkeit, aus dem Schatten der Vergangenheit zu treten. Das Leid ihrer Eltern und Großeltern hat auch ihr Leben geprägt – und prägt es noch immer«. Schäuble betont: »Die Geschichte ist gegenwärtig. Für die Nachfahren der Überlebenden. Und für alle anderen Deutschen. Sie geht uns alle an!«

NACHFAHREN Die Brücke zur jüngeren Generation schlagen – das ist Aufgabe der zweiten Rednerin Marina Weisband. Der 33-Jährigen, die mit einem Magen-David-Anhänger um den Hals ans Rednerpult tritt, ist schon während Charlotte Knob­lochs Rede ihre Aufregung deutlich anzusehen. Auch Weisband hat eine persönliche Geschichte zu erzählen, mit der sie die Zuhörer für sich einnimmt. »In der Ukraine hieß ich Onufriyenko. Meine Familie hat damals mit Absicht den jüdischen Namen Weisband nicht tragen wollen, wegen der Nachteile, die er bedeutete.«

Für das Dilemma, in dem viele jüngere Juden sich heute befinden, findet Weisband die passenden Worte: »Wir, die Nachkommen, stehen jetzt der Tatsache gegenüber, dass mehr und mehr Augenzeugen von uns gehen. Und dass wir das Gedenken dennoch irgendwie weitertragen und lebendig halten müssen. Wir müssen einen Weg finden, das Gedenken der Schoa weiterzutragen, ohne uns selbst zu einem lebendigen Mahnmal zu reduzieren.«

Viele fragen sich jetzt, nach diesem 27. Januar, wie sie der Aufgabe gerecht werden können. Manche haben Angst, dass sich Geschichte wiederholen könnte, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, die davor warnen.
Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena, teilt diese Befürchtung nicht: »Das hört man ganz oft, aber ich finde, damit mutet man den Überlebenden und den Zeitzeugen auch eine Aufgabe zu, die die Gesellschaft als Ganzes leisten muss. Man bürdet ihnen etwas auf, was in unser aller Verantwortung ist«, sagt er der Jüdischen Allgemeinen.

Manche haben Angst, dass sich Geschichte wiederholen könnte, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, die davor warnen.

Auch ohne Zeitzeugen sei Gedenken möglich: »Wir haben ja diese unglaublich starken Zeugnisse von diesen Menschen in allen möglichen Formen. Als Videos, als Bücher, als Dokumente. Es mangelt uns doch nicht an Informationen, Texten und Quellen.«

Wie stellt er sich den 27. Januar im Bundestag zukünftig vor? »Was jetzt ja schon mit Frau Weisband begonnen wurde: Nachfahren können sprechen«, sagt Frei. »Mir wäre aber fast noch wichtiger, dass generell jüngere Menschen sprechen, die an diesem Thema dran sind, die sich dieses Thema zur Aufgabe gemacht haben und die aus ihrer Perspektive über den Zivilisationsbruch der Schoa sprechen. Die eigene Familie muss dazu nicht betroffen gewesen sein, sondern man kann eben auch aufgrund einer Auseinandersetzung mit den Quellen, mit dem Geschehen eine würdige Rede halten.«

ZUKUNFT Auch Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, findet: »Es wäre absolut nicht zielführend, wenn wir, weil es keine Zeitzeugen mehr gibt, keine solchen Veranstaltungen mehr machen. Noch gibt es Überlebende, und solange es sie noch gibt, sollte man sie in Gedenkveranstaltungen integrieren, denn sie sind diejenigen, die am unmittelbarsten darüber berichten können«, sagt der Historiker.

Was ihm allerdings Sorge bereitet: »Über uns allen schwebt derzeit noch das ›moralisch-politische Schutzschild‹ der Überlebenden gegenüber Positionen des Rassismus, des Antisemitismus, des Geschichtsrevisionismus. Weil die Überlebenden immer ihre Stimmen erhoben haben, wenn es zu Angriffen auf die Erinnerungskultur gekommen ist. In dem Augenblick, wo die Überlebenden nicht mehr da sind, werden die Geschichtsrevisionisten keine Rücksicht mehr nehmen, und es wird für sie deutlich einfacher werden. Davor graut mir.«

Insofern sind Charlotte Knoblochs Worte im Bundestag ein Vermächtnis: »Wir geben jetzt den Stab der Erinnerung an Sie ab – im Vertrauen, ihn in gute Hände zu legen. Vergessen Sie uns nicht!«

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