Peter R. Neumann

»Die Gefahr ist nicht gebannt«

»Man schaut immer nur auf die Bedrohung, die einem gerade am größten erscheint, also auf den letzten Anschlag, der verübt wurde«: Peter R. Neumann Foto: picture alliance/dpa

Herr Neumann, vor ein paar Jahren verübten Dschihadisten in Europa zahlreiche Terroranschläge, auch auf jüdische Ziele. Wo stehen wir heute?
Zwei Dinge haben sich seitdem verändert: Erstens ist die Terrorismusbekämpfung besser geworden. 2013/14 waren viele europäische Sicherheitsbehörden noch überrascht von der Existenz dieser Netzwerke. Inzwischen sind sie durchschaut und größtenteils auch ausgehoben. Es ist heute nicht mehr so einfach, über Monate im Voraus einen großen Anschlag zu organisieren, an dem viele Leute beteiligt sind. Zweitens existiert der IS nicht mehr, zumindest nicht in Syrien und im Irak. Das Projekt eines Kalifats entfacht nicht mehr dieselbe Anziehungskraft wie vor ein paar Jahren. Enthusiasmus und Begeisterung bei den Dschihadisten sind gesunken, und seitdem sind auch relativ wenige neue Leute dazugestoßen.

Ist die Gefahr also gebannt?
Nein, aber sie ist geringer geworden. Die Szene ist nicht mehr expandiert. Heute kommt die Gefahr in erster Linie von Einzeltätern, die damals radikalisiert wurden. Das sind Personen, die seit Längerem in dieser Szene sind, aber nicht mehr die Möglichkeit haben, sich in vorhandenen Strukturen ausbilden zu lassen. Sie sind dennoch gefährlich, wie wir jüngst in Frankreich, in Österreich und auch in Deutschland gesehen haben. Gerade für jüdische Einrichtungen besteht weiter die Gefahr, dass solche Einzeltäter versuchen, Anschläge durchzuführen.

Sind die Sicherheitsbehörden besser gewappnet?
Ja. Damals waren sie überfordert. 2011/12, nach der Ausschaltung von Osama bin Laden, dachte man, der islamistische Terrorismus und Al Qaida seien nun im Wesentlichen besiegt. Dann kam der Syrien-Konflikt, und plötzlich gab es da Tausende von Leuten, die in der salafistischen Szene auftauchten, nach Syrien reisen wollten und zu allem bereit waren. Die Sicherheitsbehörden hatten nicht die Kapazität, das zu durchdringen. Heute ist das anders. Es wurden Leute eingestellt, man hat mehr Befugnisse, und die islamistische Szene wird besser beobachtet. Aber man muss beim Terrorismus immer sehr vorsichtig sein mit Vorhersagen. Und es ist schwer zu verhindern, dass ein Einzelner sich ein Maschinengewehr besorgt und einen Anschlag verübt.

Was ist mit Gruppen wie der Hisbollah? Stellen die nicht auch eine Bedrohung dar?
Momentan halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass die Hisbollah in Europa Terroranschläge verüben wird. Das heißt aber nicht, dass von ihr langfristig keine Gefahr ausginge. Sie ist professionell organisiert und überall in Europa präsent, auch in Deutschland. Entscheidend ist aber die Frage: An welchem Punkt wird diese Struktur aktiviert? Sollte es zu einer scharfen Konfrontation mit dem Iran kommen, birgt die Präsenz der Hisbollah in den EU-Ländern eine Gefahr. Nur ist auch klar: Falls die Hisbollah morgen eine Synagoge angreift, wären die Behörden sofort hinter ihr her.

Agieren die Europäer da nicht kurzsichtig?
Absolut. Man schaut immer nur auf die Bedrohung, die einem gerade am größten erscheint, also auf den letzten Anschlag, der verübt wurde. Dass sich das Regime im Iran in den letzten Jahren nicht zum Besseren verändert hat, wird auch gerne verdrängt.

In welchen EU-Ländern sind jüdische Einrichtungen besonders bedroht?
Die Gefahr erscheint mir dort besonders hoch, wo die Konflikte zwischen muslimischer Community einerseits und nichtmuslimischer Mehrheitsgesellschaft andererseits am größten sind, beispielsweise in Frankreich, wo ein rigoroser Laizismus verordnet wird, oder in Skandinavien. Leider sind die jüdischen Einrichtungen oft die ersten, die angegriffen werden. Wenn Juden zur Zielscheibe von Hass und Gewalt werden, ist das ein Indikator, dass etwas in der Gesellschaft nicht mehr funktioniert.

Worin sehen Sie die Hauptursache für den wachsenden Antisemitismus: im Rechtsextremismus oder im Islamismus?
Aktuell ist die rechte Gefahr die größere. Für die Gesamtgesellschaft, aber auch für Juden, sind beide strukturelle Gefahren, auch in den kommenden Jahrzehnten. Wir machen einen Fehler, wenn wir ständig das eine gegen das andere aufrechnen. Das verhindert, dass wir als Staat systematisch und nachhaltig in die Bekämpfung beider Bedrohungen investieren. Wenn wir nach jedem Anschlag sagen, dies oder jenes ist die größere Gefahr, dann setzen wir das in den letzten Jahren Erreichte aufs Spiel.

Wie erfolgreich waren die Investitionen bei Polizei und Verfassungsschutz in den letzten Jahren?
Wir haben weniger Anschläge als noch 2015 oder 2016. Seitdem haben die Sicherheitsbehörden auch viele Anschläge verhindert. Damals haben Leute wie Hans-Georg Maaßen gewarnt, dass mit den Flüchtlingen auch sehr viele Dschihadisten nach Deutschland kommen würden. Im Großen und Ganzen hat sich das nicht bewahrheitet. Zwar gab es einige Vorfälle, aber viele weitere wurden eben verhindert. Das heißt nicht, dass Dschihadismus unter Flüchtlingen kein Problem gewesen wäre. Aber man hat sich damals schnell auf das Thema konzentriert und konnte deswegen einiges verhindern. Das Augenmerk auf den islamistischen Terrorismus zu lenken, war richtig.

Aber wurde der Rechtsextremismus nicht unterschätzt?
Sicherlich. Und es fehlten die Ressourcen, weil sie gegen die islamistische Bedrohung eingesetzt wurden. Man hätte die Sicherheitsbehörden insgesamt besser ausstatten müssen.

Mit den Worten von Angela Merkel aus dem Jahr 2015 könnte man also sagen: »Wir haben das geschafft …«?
Was den Terrorismus angeht, wurde ich das schon damals gefragt. Ganz ehrlich, ich war mir damals nicht sicher, was die richtige Antwort ist. Wir wussten alle nicht, wer da kommen würde. Im Rückblick kann man aber sagen: Dass relativ wenig passiert ist, ist auch ein Resultat erfolgreicher Arbeit der deutschen Behörden. Vergleichen Sie das einmal mit Frankreich – Nizza, Charlie Hebdo, Hypercacher, Bataclan – oder mit Großbritannien und den Anschlägen in Manchester und London. Da steht Deutschland recht gut da – obwohl wir viel mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als diese beiden Länder.

Ist das nicht eher Zufall?
Ich glaube nicht, auch wenn ich das nicht genau quantifizieren kann. Klar, wenn etwas passiert, heißt es schnell: Die Sicherheitsbehörden haben versagt. Aber das kann man so pauschal für Deutschland nicht sagen, im Gegenteil: Polizei und Verfassungsschutz haben sehr gute Arbeit geleistet. Es hätte viel mehr passieren können.

Sie haben Hans-Georg Maaßen angesprochen, der bis 2018 Verfassungsschutzpräsident war. Wie sehen Sie seine Rolle heute?
Maaßen war auch schon in seiner Zeit als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz ein Konservativer innerhalb der CDU, keine Frage. Ich hatte bei ihm aber nicht das Gefühl, er bewege sich außerhalb des Rahmens. Aber nachdem er sein Amt aufgeben musste, hat er sich klar radikalisiert und äußert seitdem Meinungen, die über das hinausgehen, was er sich jemals als Verfassungsschutzpräsident zu sagen getraut hätte.

Nun scheint es gerade in Ostdeutschland ein großes Reservoir an rechtsradikal eingestellten Menschen zu geben. Was kann man tun?
Ich habe keine perfekte Antwort. Das entscheidende Problem ist, dass in Ländern wie Sachsen oder Thüringen solches Denken zum Mainstream geworden ist. Es geht nicht mehr nur um ein paar Rechtsextreme, die sich in einer Kneipe treffen und dann eine Straftat begehen. Die AfD hat ja in Sachsen fast jeden Wahlkreis bei der Bundestagswahl gewonnen. Es ist jedenfalls eine riesige Herausforderung an uns alle. Als Terrorismusforscher beschäftige ich mich typischerweise mit Gruppen, die eher klein sind und an den Rändern der Gesellschaft stehen. Aber hier geht es um einen Extremismus der Mitte.

Bedeutet das langfristig auch mehr Anschläge?
Das kann schon sein. Wenn eine Gesellschaft sich polarisiert, extremistische Ansichten normalisiert werden und damit der Nährboden vorhanden ist, auf dem Hass auf Juden und andere Minderheiten wachsen kann, dann wird es einfacher, solche Taten durchzuführen. Das macht mir große Sorge. Es ist eine bedrohliche Entwicklung, dass dort nicht die Rechten die Outcasts sind, sondern jene, die Minderheiten wie Juden oder Muslime verteidigen.

Sie waren in Armin Laschets Zukunfts­team für die Bundestagswahl. Was hat sich mit diesem Exkurs in die deutsche Politik verändert?
Nicht viel, auch wenn ich in diesen vier Wochen natürlich eine Menge erlebt und etliche neue Leute kennengelernt habe. Es war sehr intensiv, ich habe viel Neues über Politik erfahren. Aber für mich persönlich hat sich im Prinzip nichts geändert. Ich habe meinen Job, den ich auch weitermachen werde. Einschneidender ist das natürlich für jene, die bei dieser Niederlage ihr Bundestagsmandat verloren haben.

Sie sind jetzt in Brüssel und bauen dort unter anderem das Institute for Freedom of Faith and Security in Europe (IFFSE) auf. Was sind die Ziele?
Wir wollen europäische Entscheidungsträger darauf aufmerksam machen, dass religiöse Minderheiten in Europa besondere Bedürfnisse haben. Dazu gehört nicht nur die Sicherheit, sondern beispielsweise auch die Anerkennung von traditionellen Riten wie Beschneidung oder Schächten oder auch der religiösen Bekleidung.

Hat die EU überhaupt noch ein Ohr für solche Anliegen?
Viele in der EU haben Sympathie für die grundsätzlichen Anliegen religiöser Minderheiten. Niemand möchte, dass Synagogen angegriffen werden oder sich Leute gedrängt sehen auszuwandern. Aber jüdisches Leben in Europa ist mehr, als nur nicht getötet zu werden! Es bedeutet auch, dass du in deinem Land dein Kind beschneiden lassen darfst. Oder dass du koscheres Essen bekommen kannst. Selbst säkulare Juden legen Wert darauf, dass das beides möglich bleibt. Dafür haben europäische Politiker leider oft kein Gespür.

Reagieren sie bei diesen Themen nicht einfach auf gewandelte Ansichten in der Gesamtbevölkerung?
Hier wollen wir gegenhalten. Natürlich unter der Annahme, dass die meisten europäischen Politiker grundsätzlich für die Freiheit der Religionsausübung sind. Sie verstehen nur manchmal nicht, was das in der Konsequenz heißt. Wer will, dass Juden in Europa bleiben, der muss ihnen auch jüdisches Leben ermöglichen. So einfach ist das. Die ex­trem laizistische Einstellung, welche jede Art von Religiosität – sei es das Kopftuch oder die Kippa – aus dem öffentlichen Raum verbannen möchte, ist keine gute Entwicklung.

Hat die Art, wie über dieses Thema diskutiert wird, zu einer Radikalisierung von Teilen der muslimischen Gemeinschaft geführt?
Wie mittlerweile in Frankreich die Trennung von Staat und Religion propagiert wird, ist schon ziemlich extrem. Das hat zu einer Konfrontation, ja, fast zu einem Kulturkampf geführt. Man muss muslimischen Frauen nicht aus ideologischen Gründen das Tragen des Kopftuches in der Öffentlichkeit verbieten. Das wird beispielsweise in Deutschland viel pragmatischer gehandhabt – mit der Folge, dass wir solch extreme Konfrontationen wie in Frankreich bei uns nicht haben.

Wie gut läuft die europäische Sicherheitszusammenarbeit mit Israel?
Sie ist gut und hilfreich. Niemand würde diese Kooperation missen wollen. Ich glaube auch, dass wir von Israel viel lernen können, was die Gesellschaftspolitik angeht. Die Art und Weise, wie dort mit dem Thema Islam umgegangen wird, ist viel normaler als bei uns. Das erste Mal, dass ich den Muezzinruf von einer Moschee gehört habe, war in Israel. Und das macht aus Israel ja nicht ein weniger jüdisches Land. Dort kann man lernen, etwas weniger aufgeregt zu sein.

Mit dem Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London sprach Michael Thaidigsmann.

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