Herr Steinitz, Sie haben vergangene Woche beim Prozess gegen den Halle-Attentäter als Experte zum Thema Antisemitismus ausgesagt. Dabei haben Sie den mangelnden Schutz der Synagoge am Tag des Terroranschlags kritisiert. Wie kam es dazu, dass die Sicherheitsbehörden seinerzeit so offenkundig versagt haben?
Aus Befragungen von Vertreterinnen und Vertretern jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt, aber auch aus anderen Bundesländern wissen wir, dass Jüdinnen und Juden die Bedrohungslage sehr klar war. Wir müssen davon ausgehen, dass die Sicherheitsbehörden von den unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen bei Jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt auch vor dem Anschlag Kenntnis hatten ...
Woran genau machen Sie das fest?
Beispielsweise wurden im Rahmen einer Analyse des Landeskriminialamts neue Sicherheitsvorkehrungen für die Gemeinde in Dessau empfohlen, die 17.000 Euro gekostet hätten. Als die Gemeinde daraufhin beim Innenministerium nachfragte, ob das Ministerium bei der Umsetzung der Empfehlung helfen könnte, wurde das mit Verweis auf den Staatsvertrag, der das nicht regele, abgelehnt.
Polizei, Landeskriminalamt (LKA) und Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) hatten nach dem Anschlag mehrfach gesagt, dass sie keinerlei Hinweise auf den Anschlag oder auf eine veränderte Sicherheitslage der Synagoge gehabt hätten. Wie bewerten Sie diese Aussage?
Es gibt seit 1969 eine nahezu ungebrochene Kontinuität extremer, antisemitischer Gewalt in der Bundesrepublik. Aus dieser abstrakten Bedrohungslage wird spätestens am höchsten jüdischen Feiertag eine konkrete, wenn nämlich so viele Juden und Jüdinnen wie an keinem anderen Tag im Jahr in den Synagogen zusammenkommen. Wenn die Sicherheitsbehörden dies nicht erkennen und stattdessen auf konkrete Hinweise warten, wird die von Antisemiten jederzeit ausgehende Gefahr systematisch unterschätzt.
Die Aussage von Innenminister Stahlknecht hatte unter anderem der Zentralrat der Juden in Deutschland massiv kritisiert und Stahlknechts Eignung als Innenminister bezweifelt. Glauben Sie, dass die Verantwortlichen zumindest jetzt für ausreichend Schutz jüdischen Lebens in ihrem Bundesland sorgen?
Die Landesregierung sendet hier gemischte Signale. Einerseits wurde kürzlich ein neuer Staatsvertrag auf den Weg gebracht, der auch die sicherheitsrelevanten Fragen sehr gut regeln soll, so zumindest der Eindruck des Landesverbands, darüber hat das Land 2,4 Millionen Euro für zusätzliche Schutzmaßnahmen der Gemeinden in Sachsen-Anhalt zugesagt, was ich sehr begrüße ...
... andererseits?
... zugleich hat Innenminister Stahlknecht erst kürzlich vor Polizisten in Dessau gesagt, die zum Schutz für die jüdische Gemeinde aufgewendeten Arbeitsstunden würden an anderer Stelle fehlen. Hiermit wird der notwendige Schutz für jüdische Gemeinden dafür verantwortlich gemacht, dass die Polizei an anderer Stelle scheinbar zu wenige Ressourcen hat. Auch wenn sich der Innenminister hierfür entschuldigt hat, zeigt die Aussage doch: Er ist seiner besonderen Verantwortung, für den adäquaten Schutz jüdischer Dessauer/innen, Hallenser/innen und Magdeburger/innen Sorge zu tragen und diesen auch der Öffentlichkeit zu vermitteln offenbar nicht gewachsen.
Sie haben vor Gericht betont, dass der Anschlag auf die Synagoge in Halle vor über einem Jahr sich nicht im gesellschaftlichen Vakuum ereignete. Wie meinten Sie das?
Ich habe in meiner Aussage versucht zu zeigen, dass der Antisemitismus in Deutschland mit dem Ende der Schoa nicht einfach verschwunden ist. Seit Ende der 1960er-Jahre kam es in der Bundesrepublik zu einer Vielzahl schwerer antisemitischer Straftaten – ich erinnere nur an den Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus 1970 in München, die Brandanschläge auf die Lübecker Synagoge 1994 und 95 oder den Mord an der Schoa-Überlebende Blanka Zmigrod 1992 in Frankfurt am Main. Der Bundesverband RIAS musste in den vergangenen Jahren sieben Fälle extremer antisemitischer Gewalt dokumentieren. All diese Fälle kommen im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik kaum vor – am Tag des rechtsextremen Terroranschlags von Halle äußerten deutsche Politiker ihre Überraschung. Hier zeigt sich eine deutliche Wahrnehmungsdiskrepanz zu jüdischen Perspektiven.
Wie haben Sie während des Prozesses das Vorgehen des Gerichtes erlebt?
Ich finde es begrüßenswert, dass zivilgesellschaftliche Perspektiven auf Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland im Rahmen des Prozesses gehört werden und ich die Möglichkeit hatte, die Folgen des Anschlags auf jüdische Gemeinden in Sachsen-Anhalt und in Deutschland insgesamt zu schildern. Am gestrigen Verhandlungstag hat sich aber auch gezeigt, dass es für das Gericht auch eine Herausforderung darstellt, den prozessrechtlichen Vorgaben zu entsprechen und dennoch im Sinne der Überlebenden dem Täter in aller Deutlichkeit seine Grenzen aufzuzeigen.
Wie ist Ihr Eindruck von dem Täter?
Er ist ein Antisemit, der wusste und wollte was er tat. Er versucht, den Prozess als Bühne für seinen Antisemitismus zu nutzen. Das ist für Beobachter, aber insbesondere für die Überlebenden schwer zu ertragen. Insgesamt wirkt er auf mich aber eher schlicht, seine Versuche Selbstsicherheit auszustrahlen sind durchschaubar. Er taugt zum Glück nicht als Märtyrer für die rechtsextreme Szene.
Hatten Sie die Möglichkeit, mit den jüdischen Überlebenden zu sprechen? Falls ja: Wie ist Ihr Eindruck von den Betern, die das ganze er- und überlebt haben?
Das ist für mich jetzt schon eine der zentralen Erkenntnisse aus diesem Prozess: Er hat zwischen Angehörigen unterschiedlicher Betroffenengruppen unglaubliche Solidarisierungseffekte ausgelöst. Ich finde es beeindruckend, wie Überlebende des Anschlags sich auch im Prozess behaupten und selbstbewusst gegenüber dem Angeklagten und dem Gericht ihre Position vertreten. Der Attentäter wollte Menschen aus antisemitischen, rassistischen und sexistischen Motiven töten und so eine Botschaft an diese gesellschaftlichen Gruppen senden. Der Prozess, das Agieren der Überlebenden und der Nebenklage sendet aber eine andere Botschaft: Wir lassen uns nicht einschüchtern und halten zusammen!
Rechnen Sie damit, dass es künftig zu einem ähnlichen Angriff kommen kann – und haben die Sicherheitsbehörden bundesweit mittlerweile das Gefährdungspotential von antisemitischen Terroristen erkannt?
Die Gefahr extremer antisemitischer Gewalt besteht weiterhin. Ich sehe durchaus Verbesserungsansätze im Umgang mit den jüdischen Gemeinden. Gegenwärtig werden bundesweit neue Gefährdungsanalysen sowohl von Landeskriminalämtern, als auch vom Zentralrat der Juden erstellt. Erst die Empfehlungen diese Analysen werden zeigen, ob die zugesagten Mittel auch ausreichen.
Das Gespräch mit dem Geschäftsführer des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) führte Philipp Peyman Engel.