Am 16. April rief mich Armin Laschet an und trug mir an, für Sie die Würdigung zur Verleihung des Karlspreises zu halten. Das war am Abend, bevor ich in die Ukraine aufbrach. Wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine verließen Sie, lieber Herr Goldschmidt, im Juli 2022 Russland.
Vor über 30 Jahren waren Sie von Israel dorthin gezogen, um jüdisches Leben wiederaufzubauen. Und Sie gingen, als Sie gezwungen werden sollten, gegen Ihre Überzeugung zu zeugen.
Sie legten damit Zeugnis ab für – in den Worten der Jury – Ihr herausragendes »Wirken für den Frieden, die Selbstbestimmung der Völker und die europäischen Werte, für Toleranz, Pluralismus und Verständigung«.
Wer das europäische Judentum ehrt, kann über Antisemitismus nicht schweigen. Über die Ostertage las ich – auch als Vorbereitung auf meine Ukraine-Reise - Jeffrey Veidlingers Buch Mitten im zivilisierten Europa. Darin zeichnet der US-amerikanische Historiker die Pogrome gegen Juden in der Ukraine zwischen 1918 und 1921 nach.
Der Titel des Buches geht auf einen Satz des französischen Literaturnobelpreisträgers Anatole France zurück, der in einem offenen Brief die Weltöffentlichkeit seiner Zeit warnte: »Mitten im zivilisierten Europa am Anbruch einer neuen Ära, für die die Welt ihre Charta von Freiheit und Gerechtigkeit erwartet, ist die Existenz einer ganzen Volksgruppe bedroht.«
Denn die gerade gegründete Ukrainische Volksrepublik versprach Autonomie für Minderheiten, für Russen, Polen, Juden und andere. Sie sollte – anders als die nach dem Ersten Weltkrieg entstehenden Nationalstaaten – ein Staat der ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt sein. Ein Staat, in dem Fremdheit Normalität wäre. Jiddisch war eine der Amtssprachen. Die Banknoten waren auf Ukrainisch, Russisch, Polnisch und Jiddisch. Es gab ein erstes Ministerium für jüdische Angelegenheiten.
Für einen kurzen Moment wurde die Ukraine zur Hoffnung des Europäischen Judentums. Aber Hoffnung und Land versanken bald in Gewalt und heftigen Kämpfen.
Russen beschuldigten die Juden, mit den Deutschen zu kollaborieren, Deutsche die Juden, mit den Russen zu paktieren, die Polen warfen ihnen vor, für die Ukrainer zu sein, die Ukrainer, dass sie für die Polen seien. Die Bolschewisten beschuldigten sie des Kapitalismus, die Nationalisten des Bolschewismus.
»Gleich welche politische Überzeugung man hatte, es war immer ein Jude da, der Schuld hatte«, schreibt Veidlinger. Die Jüdinnen und Juden wurden zu Opfern von brutaler Gewalt und Pogromen. Über 100.000 starben, zahllose flohen. Der von Nazi-Deutschland geplante und ausgeübte Holocaust, der auf die Vernichtung eines ganzen Volkes zielte, ist mit nichts zu vergleichen und die deutsche Verantwortung durch nichts zu relativieren. Doch Gewalt gegen Jüdinnen und Juden zieht sich als blutiger Faden durch die europäische Geschichte.
Antisemitismus ist tief ins »zivilisierte« Europa eingeschrieben. Im deutschen Faschismus fand er seinen extremen, beispiellosen Exzess, aber der Antisemitismus begann nicht mit der Nazi-Diktatur und endete nicht mit ihr.
Und der Kampf gegen Antisemitismus bliebe auf halber Strecke stehen, ohne die Analyse, dass und wie auch das moderne, scheinbar so aufgeklärte Europa Antisemitismus nicht nur in sich trug, sondern auch verschärfte.
Wollen wir ihn verstehen, müssen wir weiter, tiefer denken. Welcher Anlass könnte besser geeignet sein als die Verleihung des Karlspreises an Sie, lieber Pinchas Goldschmidt – ermöglicht doch ihr Leben und Wirken einen Blick auf das, was Europa sein kann, sein sollte – und im Schatten der Welt, wie sie heute ist: sein wollen muss!
Die europäische Geschichte wimmelt vor antisemitischen Stereotypen, Vorurteilen, die zu Urteilen werden, ohne Grund, ohne eigene Erfahrung. Aber auch Stereotype und Vorurteile sind nicht der Grund des Antisemitismus. Sie sind seine Ausprägung.
Wer über Antisemitismus redet, muss nach dem Grund der Stereotypen fragen. Ich will dies, lieber Pinchas Goldschmidt, entlang des Zufalls versuchen, der diese Rede mit Ihrem Preis verbindet.
Ich begann sie nämlich während meiner Reise durch die Ukraine zu schreiben, auf einer Fahrt im gepanzerten Jeep Richtung Odessa – das gerade aus der Luft angegriffen wurde. Deshalb verbindet sie Orte des Ostens, eines Ostens, der einmal die Heimat und für einen kurzen Moment die Hoffnung für die europäischen Juden war. Und dem Europa viele der Denkerinnen und Denker verdankt, deren Schriften für mich die intellektuelle Essenz des europäischen Judentums ausmachen.
Viele kommen aus Orten um den 25° Längengrad, den ich auf meiner Nachtzugfahrt nach Kiew und im Jeep Richtung Odessa querte: Paul Celan, Rose Ausländer aus Chernowitz, Martin Buber, der in Lwiw/Lemberg aufwuchs, und auf dem Meridian nach Norden: Emmanuel Lévinas aus Litauen, Hannah Arendt, die ihre Kindheit in Kaliningrad/Königsberg verbrachte.
Lieber Herr Goldschmidt, die Jury des Karlspeises setzt mit dem Preis an Sie ein Zeichen. Ein Zeichen gegen Antisemitismus. Ein Zeichen dafür, dass jüdisches Denken und jüdisches Leben Europa reicher macht – ja ausmacht. Dass das Judentum »selbstverständlich zu Europa gehört und in Europa kein Platz für Antisemitismus sein darf«. Und so sollte es ja sein. Aber wir wissen, Sie wissen, die Jüdinnen und Juden wissen und erleben, dass es anders ist.
Wir müssten nicht betonen, dass für Antisemitismus in Europa kein Platz ist, wenn es ihn nicht geben würde. Und in diesen Jahren ausgeprägter denn seit langem. Ich möchte mit Ihnen, entlang Ihrer Schriften und entlang der Schriften derjenigen, die um den 25ten Längengrad herum ihre Gedankenlinien zogen, nachfragen, ob wir nicht schon den ersten gedanklichen Fehler machen, wenn wir von dieser »Selbstverständlichkeit des Dazugehörens« ausgehen.
Einerseits müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, dass das Judentum nie einen sicheren Platz in Europa hatte, dass Antisemitismus in die Geschichte Europas eingraviert ist und sich auch nach 1945 nicht einfach aufgelöst hat. Genauso müssen wir aufpassen, dass die Antwort auf den Antisemitismus nicht die Denkfigur eines nivellierenden »Dazugehörens« wird, die das Fremde aufzulösen sucht und auf eine geschlossene, vielleicht abgeschlossene Identität zielt.
Denn nicht das, was sich von selbst versteht, das Gleiche, das harmonische Auflösen der Gegensätze, ist das Wesen von – ich zitiere die Preisbegründung – »Toleranz, Pluralismus und Verständigung«, sondern das Abweichende, Andere, Fremde.
Das europäische Judentum ist nicht etwas, gegenüber dem Toleranz einzufordern wäre, sondern der Grund der Toleranz. Und Pluralismus und Verständigung beruhen nicht auf der stillschweigenden Übereinkunft zwischen Unterschiedslosen, sondern auf dem geteilten Wissen von Differenzen und Unterschieden.
Um vorzugreifen: Das zu leben und politisch zu realisieren ist die europäische Einigung. »Einheit in Vielfalt« bedeutet nicht, dass eine Gleichheit unterschiedlich ausgeprägt ist, es bedeutet, dass eine aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, Nationen undgeschichtlichen Bezügen gebildete Union Freiheit, Frieden in Freiheit, Demokratie und Menschenrechte als ihr politischen Ziel realisiert.
»Die Bibel«, schreiben Sie, lieber Herr Goldschmidt, »die Wurzel unseres gemeinsamen jüdisch-christlichen Erbes spricht immer wieder von der Bedeutung, ›den Fremden‹ willkommen zu heißen. Auch dies ist ein Teil unserer europäischen Identität. Wenn wir uns zu einer gemeinsamen Identität bekennen, dann sollten wir uns auch darum bemühen, sie mit anderen zu teilen.«
Man könnte weitergehen und sagen: Nur dort, wo ein Fremder hinzukommt, entsteht eine teilbare Identität, eine, die nicht in sich gekehrt ist oder gar verschlossen, abgeschlossen. Dies ist eine Denkfigur des Widerspruchs. Und zwar nicht im Sinne eines Protests oder Aufbegehrens, sondern eines unauflösbaren Widerspruchs, der aber ein Gespräch, einen Dialog erst möglich macht.
Solch ein Dialog setzt voraus, dass man nicht in allem gleich ist. Er setzt voraus, dass es etwas zu besprechen gibt. Weshalb jede »identitäre Bewegung«, also eine Bewegung, die eine geschlossene, ethnisch homogene Kultur herbeiphantasiert und mit Gewalt herbeiführen will, genau diesen Dialog – und damit die Demokratie – beenden, unterdrücken, im schlimmsten Fall töten muss.
Das ist wohl die wahre Wurzel des antisemitischen Faschismus: Er erträgt keine Infragestellung, keine Meinungsvielfalt, keine Kulturvielfalt, keine Fremdheit. Fremdheit – das ist die Abweichung vom Erwarteten, von der Norm, vom Gleichen. Und deshalb gilt Fremdheit auf Dauer als kein guter Zustand. Die Fremdheit, das ist – wiewohl mitunter mit erhabenem Schauer versehen – das zu Überwindende. Fremdheit verhindere auf Dauer Identität und Gemeinschaft. Verhindere, in Übereinstimmung und im Gleichklang zu leben – mit sich und in seiner Gesellschaft.
Was aber, wenn schon in dieser klassischen Sehnsucht nach Gleichklang der pochende Ton des Gleichschritts dröhnt? Wenn Harmoniesehnsucht zu Hasssucht gegen Fremdes und Fremde führt, Aussöhnung zu Auslöschung?
Ich will betonen: Hier gibt es keine Zwangsläufigkeit. Es gibt geschichtlich und ideengeschichtlich keine Unvermeidlichkeiten. Man muss sich allerdings immer gewahr sein, dass diese – nachgerade anthropologische — Konstante der Sehnsucht nach harmonischer Einheit immer kippen kann – und dass Demokratie, Frieden, Toleranz nichts Selbstverständliches sind, sondern Arbeit.
Menschen machen einen Unterschied, wenn sie – wie Rabbi Goldschmidt – einen Unterschied machen wollen.
Und das ist ein Auftrag an uns alle. Gerade in dieser Zeit: Aufzustehen, wenn Menschen unterdrückt, Minderheiten bedroht oder Gewalt eingesetzt wird.
In einem anderen Leben zu einer anderen Zeit hatte ich im Rahmen einer Forschungsarbeit das Missvergnügen, das Buch Der Mythos des 20. Jahrhunderts von Alfred Rosenberg, eines der übelsten Antisemiten Nazideutschlands, zu lesen. So unangenehm es ist, will man die Tiefengründe des Antisemitismus verstehen, muss man sich der Mühe unterziehen, ihn zu studieren, um seine Wiederkehr zu bekämpfen.
Bei Rosenberg lässt sich nachzeichnen, welche verheerenden Konsequenzen dem Willen zur einheitlichen, harmonischen Gestalt entspringen können. Dem Schönheitsideal des vollendeten Körpers der klassischen Kunst soll bei Rosenberg der vollendete Volkskörper entsprechen. Dieser wird pathologisch ausgedeutet. Alles, was ihm fremd ist, gilt als schwach, krank und muss ausgerottet werden.
Die gedankliche Übertragung der klassischen Ästhetik in die Politik schafft einen politischen Alptraum. Um zu verstehen, welche Rolle Gestalt und Form als Phänomen haben, braucht man eine methodische Phänomenologie – deren Gründer ist Edmund Husserl, Jude auch er, geboren in Mähren, ganz in der Nähe des 25. Längengrads.
Für Husserl ist der Fremdheit des Anderen nur durch Ähnlichkeit zu begegnen, nicht durch Aufgehen oder Verschmelzung. Ähnlichkeit statt Unterschiedslosigkeit, Vergleichbarkeit statt Gleichheit.
Menschen haben keine Wesensnatur, die man formen oder untereiner Gattung subsumieren kann, sie sind keine »metaphysischenGegenstände« wie der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas in der Tradition Husserls in Die Zeit und der Andere erläutert. Man kann sie nicht definieren und von dieser Definition dann das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Eigentliche vom Uneigentlichen, das Eigene vom Fremden scheiden. Menschen sind jeeigene Körper – und Seelen –, die jeweils anders und singulär sind.
Das Singuläre in ein Allgemeines zu überführen, tut ihnen Gewalt an. Die Fremdheitserfahrung ist konstitutiv für das menschliche Leben. Nur können wir nicht bei der Singularität unserer Leben stehen bleiben, sonst würden wir in trostloser Einsamkeit geradezu ersaufen. Das war der große Fehler von Martin Heidegger, Husserls MusterSchüler und sein Nachfolger als Rektor der Uni Freiburg. Heidegger dachte den Menschen in seinem Sein in der Zeit zu Ende und fand am Ende, wenn die Zeitlichkeit uns einholt, nur die Einsamkeit.
Als Paul Celan ihn besuchte, in Todtnauberg, »auf eines Denkenden/ kommendes/ Wort/ im Herzen« hoffend, wurde er enttäuscht. Heidegger gestand keine Schuld ein, redete nicht über Fehler. Es entstand kein Gespräch. Am Ende stand bei Heidegger, nein, nicht das Schweigen, sondern das Stummbleiben.
Wie anders die auf Antwort beharrende Tradition des europäischen Judentums. Statt am Ende der Zeitlichkeit Einsamkeit zu finden, stiftet sich dort nach jüdischem Denken ein Verhältnis. Und zwar eines, das die Singularität zu einer Beziehung macht, einer Beziehung ohne Verallgemeinerung, einer Beziehung aus Unangleichbaren, aus absolut Anderen, die sich auch nicht durch Erfahrung angleichen lässt.
Es bleibt eine Distanz, die aber die wahre Nähe ist, denn aus ihr speist sich Dialog. Statt einer anthropologischen Sehnsucht nach Identität in Einheit finden wir in dieser jüdischen Denkschule eine uneinholbare Asymmetrie des Menschlichen, kein Aufgehen des einen im anderen, und dennoch bedeutet sie nicht Einsamkeit und Verlassenheit, sondern In-Beziehung-Treten, Reden-müssen, Sprechen-wollen.
Abstrakt? Mitnichten. Denken Sie an das Leben von Rabbi Goldschmidt: Auf dieser Basis, die Fremdheit als Fundament unseres Miteinanders akzeptiert, konnte er 2015 einen echten interreligiösen Dialog begründen: als Mitgründer des europäischen Muslim-Jewish Leadership Council. Ihm gehören hochrangige jüdische und muslimische Würdenträger an, und Ziel ist der Erhalt von Religionsfreiheit und religiösem Frieden, eine Vertiefung des Dialogs und das bessere wechselseitige Verständnis zwischen Europas ca. 1,5 Millionen Juden und über 40 Millionen Muslimen.
Der Rat, dem Oberrabbiner Goldschmidt gemeinsam mit dem Großmufti von Slowenien, Nedžad Grabus, vorsitzt, ist eine – nicht nur für Europa – außergewöhnliche Konstellation; schließlich kommen jüdische und muslimische Religionsführer in der Regel allenfalls bei interreligiösen Fachkonferenzen, Veranstaltungen der drei großen abrahamitischen Religionen oder offiziellen politischen Terminen zusammen.
Rabbi Goldschmidt konnte diesen besonderen Dialog beginnen – und das ist der Grund meiner Überlegungen –, weil er akzeptiert, dass der Andere ein Fremder bleibt. Fremd bleiben, so nah wir uns sein mögen – das ist kein Fehlen von etwas, sondern gerade das ermöglicht erst das Gespräch.
Und damit meine ich nicht das Simulieren eines Gesprächs im Geplapper und Geklapper von Worthülsen und Phrasen der Selbstvergewisserung. Ein Gespräch im Glauben, vom Gegenüber alles schon zu wissen, ist nichts als ein einsamer Monolog der Stummheit. Wir, die wir Zivilcourage zeigen wollen, müssen dieses echte Gespräch beginnen. Wieder und wieder.
Deshalb musste nach der Schoa weitergesprochen und -gedichtet werden. Celan, Jude und Ukrainer, in dessen Werk sich wie vielleicht in keinem anderen das Ringen um das richtige, nein, das mögliche Sprechen nach der Monstrosität der Shoa spiegelt, schreibt, dass sich »erst im Raum dieses Gespräch das Angesprochene« konstituiert, sich versammelt »um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit.«
Unser Gegenüber erscheint erst, wenn wir es ansprechen. Das Gespräch konstituiert den Angesprochenen. Wenn wir nicht reden, findet das Gegenüber nicht statt. Das Du unseres Gegenübers ist nicht einfach da, wie Martin Buber noch fand, es entsteht erst als Gegenüber, durch unsere Ansprache. Pinchas Goldschmidt übersetzt das ins Politische: »Um Europa weiterhin als Zivilisation, als Union von verschiedenen Völkern und Staaten zu behalten, muss dieser Dialog weitergeführt werden.«
Dass dieses Denken nicht zufällig von jüdischen Denkern entwickelt wurde, sei nur hinzugefügt. Denn der Fremde ist der Andere. Und im jüdischen Denken eben jener ganz Andere, der – anders als im Christentum – nicht seinen Sohn zur Versöhnung auf die Erde schickt, dessen Nähe wir in der Trias Vater-Sohn-Heiliger Geist – Geheimnis des Glaubens – erfahren. Dessen Leib leibhaftig in der Eucharistie in unserem aufgeht. Stattdessen fällt Gott »im Antlitz des Anderen« in den Glauben ein, schreibt Lévinas. Das ist der Ursprung der Ethik.
Und hier beginnt Politik. Pinchas Goldschmidt gibt uns einen Auftrag. Und ich denke, wir müssen uns diesem Auftrag stellen. Ein Jahr nachdem Wolodymyr Selenskyj für das ukrainische Volk den Karlspreis erhalten hat, wenige Wochen, nachdem der Karlspreisträger von 2018, Emmanuel Macron, in der Sorbonne die Souveränität Europas beschworen, aber auch von einem Scheideweg gesprochen hat, an dem Europa steht.
Die Frage an diesem Scheideweg lautet: Was eigentlich ist das Ziel der europäischen Einigung? Worauf arbeitet Europa eigentlich hin? Gibt es eine Finalität der Entwicklung? – Zumindest im Sinne Immanuel Kants als regulative Idee?
Das, meine ich, ist die große Leerstelle des heutigen politischen Europadiskurses, dass er sich nicht mehr traut, der Entwicklung ein Ziel zu geben. Dieses Ziel ist Frieden in Freiheit auf dem europäischen Kontinent. »Frieden in Freiheit« heißt auch hier, dass es eine begriffliche Beziehung, eine Spannung gibt.
Frieden kann ein falscher sein, wenn er der eines tyrannischen Diktats ist. Für Freiheit muss man auch kämpfen wollen, aber wahre Freiheit ist eine in Frieden. Europa darf dafür nicht stehen bleiben, wo es ist. Es hat bewiesen, dass es die Technik der Regelgebung und die Kontrolle der Regeleinhaltung beherrscht.
Aber wir laufen Gefahr, uns in diesen Regeln zu verstricken. Europa schaut zu sehr nach innen. Die Überwachung des Binnenmarkts, die Kontrolle der Kohäsionsmittel – wichtig und gut. Aber bei weitem nicht ausreichend. Im gewissen Sinn spricht daraus sogar eine Hybris. Die überkommene Vorstellung, dass Europa so mächtig ist, dass es sich vor allem um sich selbst kümmern kann. So ist es längst nicht mehr.
Wollen wir in einem umkämpften geopolitischen Umfeld bestehen, brauchen wir eine europäische außenpolitische und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit – Europa muss sich schützen und verteidigen können –, eine gemeinsame europäische Finanzpolitik, eine Reform der europäischen Institutionen, um die Erweiterung der Union um die östlichen Nachbarn vorzubereiten.
Dass sie zu einem Europa in Freiheit und Frieden gehören wollen, dafür kämpfen ihre Menschen mutig, setzen ihre Körper und Leben ein, in der Ukraine, in Belarus, jetzt gerade in Georgien.
Und es gibt Regierungen und Regierungschefs, die ihre Person mit der europäischen Idee verbinden: in Moldau, in Montenegro, in Mazedonien. Nicht zuletzt in Albanien, lieber Edi Rama. Die Finalität der europäischen Einigung wäre eine »Förderale europäische Republik«. Eine »Einheit in Vielfalt« in einer aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, Nationen und geschichtlichen Bezügen gebildeten Union.
In solch einer föderalen Union muss niemand Angst vor dem Verlust der je eigenen Geschichte und Kultur haben. In dieser Föderalen Republik rühren der institutionelle Wille zur gemeinsamen Verständigung und die demokratischen Tugenden ihrer Bürgerinnen und Bürger aus der wechselseitigen Anerkennung als Freie – und damit immer als Unterschiedliche.
Wie – um einen Kreis zu schließen – der nur kurz flackernde Gründungsgedanke der Ukrainischen Volksrepublik, bevor er unterging, ausgelöscht durch Pogrome und Exzesse im Zeitalter des ideologischen Massenwahns, zerstört durch den russischen Bürgerkrieg, zerrieben im Gezerre von Machtinteressen.
Es ist nur folgerichtig, dass Sie, lieber Herr Goldschmidt, Putins Russland aus Protest verließen, als es wieder Gewalt gegen Freiheit in der Ukraine einsetzte. Es zeugt von Ihrem tiefen historischen Gerechtigkeitssinn. Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Rabbi Goldschmidt, es ist mir eine große Ehre, diese Festrede für Sie zu halten.
Aber es wäre ein Irrtum, wenn jemand glauben würde, ich würde zu Ihnen reden. Sie haben zu mir, zu uns geredet. Durch Ihr Handeln und Ihr Sprechen. Ich möchte Ihnen auch persönlich danken: Ihr Denken und das derjenigen auf und um den 25° Längengrad prägt mich auch als Politiker.
Wir müssen uns immer wieder darum bemühen zu sprechen. Darum, durch die Andersheit des Anderen Neues sehen zu wollen. Darum, die Fremdheit zur Grundfigur unseres Strebens nach Annäherung zu machen. Differenzen als konstitutiv für das Gemeinsame zu begreifen. Einheit in Vielfalt.
Das Gespräch zu führen – das ist eine politische und gesellschaftliche Verpflichtung. In diese Pflicht nehmen Sie uns! Das europäische Judentum ist nicht das zu Europa hinzugekommene, tolerant zu ertragende. Im Gegenteil. Es ist der europäischen Idee eingeschrieben, macht sie aus. Europa so verstanden, so gelesen,stiftet eine Verbundenheit ohne Ab-Stammeszugehörigkeit. In einem solchen Europa kann man sich niederlassen – endlich auch als Jüdinoder Jude. Zu Hause sein. Angekommen. Heimat Europa.