Meinung

Die Erben von Buber und Stalin

Blaues Hemd, weißes Band, rote Fahne: Hashomer-Hatzair-Aktivisten bei ihrem Berliner Treffen vergangene Woche Foto: Mike Minehan

»Ha Shrika shel ha tnua« – der hebräische Ausdruck benennt den Pfiff, das akustische Signal einer Jugendbewegung und ist zugleich der Titel eines Songs von Arik Einstein. Der bekannte Sänger war in seiner Jugend selbst Mitglied des Hashomer Hatzair. Auf YouTube kann man sein wunderschönes, nostalgietrunkenes Musikvideo bewundern.

Zu sehnsüchtigen Klängen sind dort Fotografien und Filmaufnahmen sowohl aus dem Mitteleuropa des frühen 20. Jahrhunderts als auch aus der israelischen Gegenwart zu sehen. Jugendliche Anmut, Lebensfreude, immer wieder marschierende Kolonnen, Volkstänze ums Feuer, uniformierte Trompeter, das blaue Hemd, das weiße Band, die rote Fahne.

kibbuz Der hebräische Text zu Einsteins Song, der regelmäßig den Kehrreim »Hashomer Hatzair« wiederholt, weist noch andere Kehrreime auf: »Kama jafim hajinu, kama srufim hajinu, kama tmimim hajinu ...« Zu Deutsch: »Ach, wie schön wir waren, wie wir brannten, wie naiv wir waren ...« Zeilen, die eine liebevolle Selbstkritik des Sängers, der sich der israelischen Friedensbewegung zugehörig weiß, artikulieren: »Wie naiv wir waren ...«

In der Tat. Der Hashomer Hatzair, vor beinahe hundert Jahren im damals österreichischen Galizien gegründet, war eine vom Geist der deutschen Jugendbewegung und Martin Buber inspirierte, zionistische Pfadfinderorganisation, die Sozialismus und Laizismus auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Die ihr entstammenden Olim der Mandatszeit gründeten Kibbuzim und eine Dachorganisation dieser kommunistischen Gemeinschaftssiedlungen, den »Kibbuz Artzi«.

Später, nach Entstehung des Staates, erwuchs daraus die linkssozialistische Partei Mapam, die schließlich nach einer wechselvollen parlamentarischen Geschichte mit kleinen linksliberalen Gruppierungen zur heutigen Partei Meretz verschmolz. Meretz hat aktuell in der Knesset drei Sitze inne und ist der parlamentarische Arm der israelischen Friedensbewegung.

widersprüche Wie naiv wir waren ... Bei aller Sympathie für das hochherzige Unternehmen dieser Bewegung ist es heute nicht mehr möglich, die immer wieder aufbrechenden Widersprüche ihres Programms zu verschweigen. Nach romantischen Anfängen wandte sich der Hashomer Hatzair – zu Deutsch: der junge Wächter – seit den späten 20er-Jahren dem sowjetischen Kommunismus zu.

Das war nicht völlig unbegründet. Wäre doch ohne die Stimmen der Sowjetunion und ihrer Satelliten der UN-Teilungsbeschluss für Palästina von 1947 niemals zustande gekommen. Entsprechend hingen in nicht wenigen Speisesälen des Kibbuz Artzi Bilder Stalins. Das änderte sich erst, als dem Vertreter der Mapam in Prag, Mordekhai Oren, 1953 wegen angeblicher »zionistischer Verschwörung« ein Schauprozess bereitet wurde. Oren, zu 15 Jahren Haft verurteilt, konnte 1956, nach der Entstalinisierung, nach Israel zurückkehren.

Besonders widersprüchlich verhielten sich Mapam und Hashomer Hatzair zu dem von ihnen vollmundig proklamierten »Internationalismus«, der sich zunächst an der Haltung zu Palästinas Arabern zu bewähren hatte. Lange Zeit immerhin standen Hashomer Hatzair und Mapam für einen binationalen Staat ein. Auch war Mapam nach der Staatsgründung die erste zionistische Partei, die arabische Abgeordnete ins Parlament entsandte und eine arabische Zeitung unterhielt. Im Zweifel aber gab sie ihre internationalistische Solidarität stets preis. So stimmte Mapam dem Gesetz zu, das arabischen Flüchtlingen die Rückkehr verweigerte.

Mehr noch: Während des Unabhängigkeitskrieges waren im November 1948 Mitglieder der Mapam, wie der israelische Historiker Benny Morris – auch er war im Hashomer Hatzair – nachgewiesen hat, an der Vertreibung palästinensischer Araber beteiligt. Es war Israels erster Premier, David Ben Gurion, der –selbst für derartige Vertreibungen verantwortlich – im Juli 1948 Mapam und ihre Kampfgruppen der Heuchelei zieh: »Sie waren mit einer grausamen Realität konfrontiert und mussten einsehen, dass es nur den einen Weg gab, die arabischen Dorfbewohner zu vertreiben und ihre Dörfer zu verbrennen. Und sie taten es – als Erste!«

besatzung »Wie naiv wir waren ...« Eine neue jüdische Linke, richte sie sich nun an Jugendliche oder Erwachsene, wird nicht zweimal in denselben Strom steigen können, sondern sich der Realität stellen müssen. Zu dieser Realität gehört aber in erster Linie die schmerzhafte Einsicht, dass sich der klassische Zionismus durch mehr als 40 Jahre Besiedlung des Westjordanlandes selbst zerstört hat und die zionistische Idee in die Hände rechtsradikaler Fundamentalisten gefallen ist.

Weltweit distanzieren sich heutzutage immer mehr nachdenkliche Jüdinnen und Juden von der Politik der israelischen Regierungsparteien. Autoren und Autorinnen wie die Amerikaner Peter Beinart und Judith Butler, die Israelis Avraham Burg und Gershom Gorenberg, ja sogar eher konservative Publizisten wie der Franzose Alain Finkielkraut treten heute für einen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten ein.

Freilich ist auch diese moralisch so korrekte Forderung illusionär, denn: Das letzte Aufgebot des klassischen Zionismus, die sogenannte Zwei-Staaten-Lösung ist tatsächlich das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Tatsächlich sind Israel und das besetzte Westjordanland schon heute nicht nur infrastrukturell integriert, sondern faktisch ein allerdings zerklüftetes, binationales politisches Gebilde.

Das ist eine Situation, in der die ursprüngliche Position des Hashomer Hatzair, die Verbindung von jüdischer und menschheitlicher Emanzipation, von brennender Aktualität ist. Wenn eine linke jüdische Jugendbewegung heute in Israel und der Diaspora für einen auf Menschen- und Bürgerrechten gegründeten Staat Israel, einen Staat aller seiner Bürger eintritt, so verdient sie jede Unterstützung.

Sabine Brandes

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