Die Corona-Pandemie hat bisher in vielen Bereichen zu paradoxen Situationen geführt. Das gilt auch für die Religionsgemeinschaften: Inzwischen sind wir soweit, dass wir zu den hohen Feiertagen volle Synagogen fast fürchten. Es macht sich eine gewisse Erleichterung bemerkbar, wenn sich die Zahl der angemeldeten Gottesdienst-Besucher in einem Rahmen hält, in dem wir die Abstände gut einhalten können. Dazu kommt, dass traditionelle Gemeinden nicht die Möglichkeit haben, einen Gottesdienst live zu streamen. Denn am Schabbat oder an Feiertagen ist die Benutzung elektronischer Geräte untersagt.
Dabei ist die Zusammenkunft der Gläubigen existenzieller Bestandteil von Religion. So sehr Religion das Gebet jedes Einzelnen ebenso ermöglicht wie - gerade im Judentum – die Feier des Schabbats oder von Feiertagen im privaten Rahmen, so ist das Fundament der Religionsgemeinschaften die Begegnung.
EINSCHRÄNKUNGEN Besonders spürbar wurde dieses Paradoxon zu Beginn der Pandemie. In den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 fiel das Pessach-Fest. Ausgerechnet an den Feiertagen, an denen wir – gerne in großer Familienrunde – die Freiheit feiern, nämlich den Auszug der Israeliten aus Ägypten, war unsere Freiheit als Bürger sehr stark eingeschränkt. Weder waren Treffen mehrerer Haushalte erlaubt, noch Gottesdienste oder Reisen, zum Beispiel nach Israel.
Und um den Blick über Pessach hinaus zu weiten: Die Freiheitsbeschränkungen fielen genau in das Jahr, in dem wir der Befreiung vor 75 Jahren gedenken wollten – der Befreiung vom Joch des Nationalsozialismus, der Befreiung der Konzentrationslager. Es ist dies ein besonders bitterer Randaspekt der Corona-Krise: Denn auch die Gedenkfeiern mussten alle abgesagt werden. Gerade die hochbetagten Überlebenden wollte natürlich niemand gesundheitlich gefährden. Viele dieser Menschen hätten vermutlich zum letzten Mal die Möglichkeit gehabt, zu einem runden Jahrestag mit größerer öffentlicher Aufmerksamkeit der Befreiung zu gedenken.
Wie die Langzeitfolgen der Covid-19-Pandemie für die Religionsgemeinschaften aussehen werden, lässt sich derzeit noch gar nicht abschätzen.
Die Einschränkung der Religionsfreiheit wurde und wird in der jüdischen Gemeinschaft mit großer Toleranz hingenommen.
Sicherlich gab es auch positive Erfahrungen. Unsere Gemeinden organisierten sehr schnell Einkaufshilfen für die älteren Mitglieder, gerade was die Versorgung mit koscheren Produkten betraf. Rabbiner boten Shiurim, also Tora-Auslegungen, online an, waren aber ebenso telefonisch im Kontakt mit Gemeindemitgliedern, die kein Internet hatten. Das hat an einigen Stellen den Zusammenhalt gestärkt. Jüngere Mitglieder merkten, dass sie gebraucht wurden, die Älteren fühlten sich nicht vergessen.
Dennoch stellen sich jetzt Fragen, die uns Sorgen bereiten: Werden gerade die jüngeren Menschen in die Gemeinden zurückkehren, obwohl sie sich vermutlich viel leichter als die Älteren damit arrangiert haben, das Gemeindeleben virtuell zu verfolgen? Treten sie aus ihrer Gemeinde aus, weil sie festgestellt haben, dass die Übertragung eines Gottesdienstes von irgendwo auf der Welt viel interessanter und dazu noch ohne Gemeindesteuer zu haben ist? Und zeitlich ist man auch flexibler, denn Videos stehen immer zur Verfügung.
Die Einschränkung der Religionsfreiheit wurde und wird in der jüdischen Gemeinschaft mit großer Toleranz hingenommen. Denn im Judentum steht der Schutz des Lebens an höchster Stelle. Um Leben zu retten, dürfen etwa am Schabbat andere Ge- und Verbote gebrochen werden, zum Beispiel durch die Nutzung eines Krankenwagens oder eine dringend notwendige medizinische Operation. Daher waren und sind die Corona-bedingten Maßnahmen mit Blick auf Schutz von Leben und Gesundheit aus Sicht der jüdischen Community nachvollziehbar und angemessen.
Zudem gibt es in der jüdischen Gemeinschaft zwei Gruppen, die einen viel stärkeren Entzug von Freiheit und Grundrechten kennen: Das sind die noch verbliebenen Schoa-Überlebenden und Menschen, die in der ehemaligen Sowjetunion unter der Diktatur gelitten haben. Keine Versammlungsfreiheit, keine Reisefreiheit, keine Religionsfreiheit sowie viele Einschränkungen im täglichen Leben – das hat die Generation der Zuwanderer in unserer Community schon in ganz anderem Ausmaß und mit viel gravierenderen persönlichen Konsequenzen erlebt.
BESORGNIS Umso fassungsloser blicken wir auf eine Entwicklung, die die Corona-Pandemie zutage befördert hat: die Demos der Corona-Leugner und der sogenannten Querdenker. Als Mediziner wünsche ich niemandem, sich mit dem Covid-19-Virus zu infizieren. Ebenso sehr wünsche ich mir allerdings, die Infizierung mit dem gesellschaftlichen Corona-Leugner-Virus würde zurückgehen. Denn was wir seit dem Frühjahr 2020 auf den Straßen und im Netz erleben, ist zutiefst besorgniserregend.
Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Auflagen und die Impfung kommt eine Mischung zusammen, wie man sie in dieser Form noch nicht kannte: Rechtsextremisten neben linken Impfgegnern, Esoteriker neben christlichen Gruppen, Öko-Latschen neben Springerstiefeln. Sie alle eint angeblich die Überzeugung, dass die Grundrechte zu Unrecht eingeschränkt würden. Unter dieser Oberfläche wurde allerdings – auch dank kritischer Beobachter und Journalisten – schnell sichtbar, dass Rechtsradikale diese Bühne nutzen, um den aus ihrer Sicht notwendigen Sturz »des Systems«, also des demokratischen und liberalen Rechtsstaats, herbeizuführen.
Das alte antisemitische Narrativ der jüdischen Weltverschwörung wurde der aktuellen Situation angepasst.
Geeint wurden die Demonstranten noch durch eine weitere gemeinsame Überzeugung: den Glauben, dass eine geheime Elite das Virus in die Welt gesetzt habe, dass die Bürger zu Marionetten würden et cetera. Das alte antisemitische Narrativ der jüdischen Weltverschwörung wurde der aktuellen Situation angepasst. Rechtsextreme konnten daran nahtlos anknüpfen, die Erzählungen verstärken und damit Zugang zu Menschen finden, die sie vorher schwerer erreicht haben.
Zugleich entstand die paradoxe Situation, dass die Corona-Leugner einerseits Juden als Täter identifizierten und andererseits sich selbst mit Holocaust-Opfern verglichen. Von Anfang an waren bei den Demonstrationen gelbe »Judensterne« in Anlehnung an die NS-Zeit zu sehen. Der Appell der Regierenden, möglichst zu Hause zu bleiben, wurde mit der Situation in den 1940er-Jahren gleichgesetzt, in der Juden sich verstecken mussten, um ihr Leben zu retten. Einen traurigen Höhepunkt erfuhr diese Entwicklung, als sich bei einer »Querdenken«-Demo in Stuttgart eine 11-Jährige mit Anne Frank verglich. Nicht das Mädchen ist zu verurteilen, sondern die Erwachsenen, die sie dazu gebracht haben.
Ebenso wähnen sich die Querdenker im Widerstand zur angeblichen Corona-Diktatur und vergleichen sich mit Sophie Scholl von der »Weißen Rose«. Eine solche Vereinnahmung der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus durch Menschen, die die Demokratie ablehnen oder mindestens Abneigung gegen unser politisches System schüren, habe ich bisher nicht erlebt.
Mit mangelndem historischen Wissen möchte ich das nicht entschuldigen. Gerade von rechtsextremen Kräften werden diese Narrative und Verschwörungsmythen ganz bewusst genutzt, um sich selbst als Opfer darzustellen, die Regelverstöße zu legitimieren und den Nationalsozialismus zu verharmlosen, wie es Autoren im jüngst erschienenen Sammelband Fehlender Mindestabstand (Heike Kleffner/Matthias Meisner) analysiert haben.
INSTRUMENTALISIERUNG Angesichts dieser Entgleisungen kam mir der Gedanke, ob sich diese Menschen ein einziges Mal gefragt haben, wie ihre Aktionen auf Überlebende der Schoa wirken. Ich kenne einige alte Menschen, die diesen Stern damals tragen mussten. Ich kenne auch Menschen, die Jahre im Versteck ausharren mussten. Menschen, die als einzige ihrer Familie überlebt haben. Es sind übrigens Menschen, die die Corona-Auflagen tapfer hinnehmen und keinen Grund sehen, sich darüber zu beschweren. Ich wäre froh, wenn sie diese widerliche Instrumentalisierung ihrer Schicksale auf den Demonstrationen gar nicht mitbekommen würden!
Festzuhalten bleibt: Die unterschiedlichen Gruppen, die sich in ihrer Gegnerschaft zur Corona-Politik zusammengefunden haben, haben auf alte antisemitische Stereotype zurückgegriffen. Die Frankfurter Sozialwissenschaftlerin Julia Bernstein spricht im Zusammenhang mit ihrer Forschung über Antisemitismus in Schulen von Antisemitismus, der sich als »kollektiver Wissensbestand« tradiert. Das lässt sich auf die Corona-Leugner übertragen.
Besonders gefährlich wird diese gesellschaftliche Entwicklung, weil sie nicht nur die Menschen erreicht, die vor Ort bei den Demos mitmarschieren, und weil sie nicht an den Grenzen Deutschlands endet. Über die sozialen Netzwerke finden die Verschwörungsmythen und falschen Behauptungen eine immense Verbreitung. Selbst in den Sicherheitsbehörden sind Beamte zu finden, die ihnen anhängen. Eine sehr bedenkliche Entwicklung! Das Internet erleichtert zudem die internationale Vernetzung von Extremisten, wie Studien von jugendschutz.net und vom Auswärtigen Amt gezeigt haben.
Die AfD geriert sich als parlamentarischer Arm der Corona-Leugner.
Rechtsextremisten suchen sich immer wieder neue Einfallstore, um ihr Gedankengut möglichst weit zu verbreiten. Die Corona-Pandemie hat ihnen ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Sehr schnell und leider gekonnt aufgesprungen auf diesen Zug ist die AfD. Sie geriert sich als parlamentarischer Arm der Corona-Leugner.
Nach der Flüchtlingskrise 2015/2016 hat die AfD hier wieder ein neues Thema gefunden. Spätestens, nachdem AfD-Abgeordnete im November 2020 einschlägige Besucher in den Bundestag eingeschleust haben, kann diese Partei ihre Strategie, die Anti-Corona-Bewegung für ihre Zwecke zu nutzen, nicht mehr leugnen.
ZIVILGESELLSCHAFT Mit der steigenden Impfquote und einer stärkeren Normalisierung des Alltagslebens können wir zum Glück auch beobachten, dass die Demokratie lebt – Proteste auf der Straße von Fridays for Future oder eine #Unteilbar-Demo Anfang September in Berlin zeigen uns: Die Zivilgesellschaft ist wach und bereit, den antidemokratischen Kräften der Querdenker und der AfD entgegenzuwirken. Jetzt ist es wichtig, dass alle Ebenen – sei es die Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Polizei, Schulen, der Sport, die Kultur und die Religionsgemeinschaften – mitziehen.
Die Publizistin Carolin Emcke hat im Januar dieses Jahres in der »Süddeutschen Zeitung« gefordert: »Darin besteht die eigentliche politische Aufgabe dieser Zeit, in der nicht nur die symbolischen Orte der Demokratie, sondern ihre gelebte Praxis angegriffen werden: den Nachweis zu erbringen, dass es möglich ist, antidemokratische, autoritäre Sehnsüchte eindeutig zurückzuweisen, sich von Hass und Lügen trennscharf zu distanzieren und trotzdem zugleich nach realen Ursachen für das soziale Unbehagen zu suchen.«
Wir brauchen eine demokratische Offensive, die eine Bildungsoffensive umfasst, von den Schulen bis zu Integrationskursen.
Es gilt, in Politik und Zivilgesellschaft nach den Einschnitten in die Freiheit wieder – um mit Willy Brandt zu sprechen – mehr Demokratie zu wagen. Denn so erschütternd 2020 die Bilder der Demonstranten auch waren, die auf den Stufen des Bundestags Reichsflaggen schwenkten – darüber dürfen wir nicht vergessen: Die Corona-Leugner und Rechtsextremisten sind eine Minderheit. All jene Menschen hingegen, die verantwortungsvoll die Maßnahmen gegen die Pandemie mittragen, die für einen respektvollen Umgang miteinander eintreten, die unsere politische Kultur pflegen, all diese Menschen bilden die Mehrheit und zwar die überwältigende Mehrheit.
Dennoch gilt es, wachsam zu bleiben und, wie Carolin Emcke zurecht sagt, autoritäre Sehnsüchte zurückzuweisen. Die Feinde der Demokratie finden immer neue und perfide Wege, um ihre Ideologie zu verbreiten. Mal sind es Konzerte, mal Computerspiele, mal Demonstrationen. Um das zu durchschauen, braucht es viel Aufklärung. Die Netzwerke der Rechten müssen sichtbar, ihre Methoden aufgedeckt werden. Gerade junge Menschen müssen dafür sensibilisiert werden. Denn sonst laufen sie ahnungslos in die Fallen der rechten Rattenfänger.
Wir brauchen eine demokratische Offensive, die eine Bildungsoffensive umfasst, von den Schulen bis zu Integrationskursen. Deutlich stärkere politische Bildung sowie Demokratieerziehung und »Holocaust education« sind vonnöten. Zivilgesellschaftliche Initiativen bedürfen ebenfalls einer Stärkung, um langfristig planen und nachhaltig arbeiten zu können. Daher sollte die neue Regierungskoalition schnell das geplante Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen. Die Corona-Krise war auch für viele dieser Vereine und Initiativen schwer zu überstehen, gerade weil dort viele Ehrenamtliche arbeiten und Begegnung ein wichtiger Faktor ist. Daher muss ihnen jetzt der Rücken gestärkt werden.
Viele Bürger wissen neu zu schätzen, welch hohen Wert unsere demokratischen Grundrechte haben. Daraus Schubkraft zu gewinnen für den demokratischen Rechtsstaat – das ist jetzt unsere gemeinsame Aufgabe.
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der Text stammt aus der neuen Sonderbeilage der Initiative »Allianz für Weltoffenheit«.