Herr Patzelt, Sie sagten in der ARD, es habe auch Vorteile, dass die AfD im Parlament vertreten ist. Was ist gut daran, wenn Rechtspopulisten im Bundestag sitzen?
Der Wert von Parlamenten besteht darin, dass sie stellvertretend für die ganze Bevölkerung politische Debatten offen austragen. Dazu gehört, dass die gesamte Spannweite dessen, was in einer Bevölkerung gedacht wird, im Parlament in einem fairen Schlagabtausch von Argumenten erörtert wird. Idealerweise gibt es große Volksparteien, die von der politischen Mitte bis zum jeweiligen Rand jene Meinungen zu einem guten Politikangebot verdichten. Dann gibt es keine radikalen Parteien im Parlament, und dennoch gehen auch die Gedanken derjenigen, die in der Bevölkerung radikal sind, über vernünftige Parteien in die parlamentarische Diskussion ein. Doch im letzten Bundestag war es so, dass das Meinungsspektrum der Bevölkerung nur von der Mitte bis zur Linken abgebildet war. Also haben sich jene, die sich als rechts oder ganz rechts empfinden, im Parlament überhaupt nicht vertreten gesehen. Auf diese Weise riss eine Repräsentationslücke auf, die durch das erdbebenartige Bundestagswahlergebnis jetzt wieder geschlossen wurde. Mir wäre es viel lieber gewesen, es hätte der Entstehung einer rechtspopulistischen Partei gar nicht bedurft, weil nämlich die Union bis zum rechten Rand alles »sauber gehalten« hätte. Weil die Union sich aber dafür zu fein oder schlicht zu feige war, ist es leider dazu gekommen, dass nun eine rechte Protestpartei im Parlament sitzt.
Und das mit AfD-Leuten, die ein Ende des deutschen »Schuldkults« gefordert und die »Herstellung von Mischvölkern« angeprangert haben oder ein Bündnis unterstützten, das für ein Deutschland in den Grenzen von 1937 warb. Ist das nicht eine Schande für dieses Land?
Ja. Und weil ich dieses Unheil erst recht seit 2014 heraufziehen sah, habe ich meine Partei, die CDU, seit Langem aufgefordert, wieder um die Lufthoheit im rechten politischen Bereich zu kämpfen. Es war doch immer schon ein ganz leicht erkennbarer Fehler, so brisante Themen wie Einwanderung und Patriotismus den Rechten zu überlassen! Die Union hätte also ihrerseits dafür sorgen müssen, dass sich auch Leute rechts der Mitte politisch vertreten fühlen – oder dass der brisante Wandel zu einer Zuwanderungsgesellschaft so schrittweise vonstattengeht, dass keiner sich mit plausiblen Gründen zur Wahl einer Partei entschließen kann, die überhaupt unser liberales politisches System ablehnt.
In Sachsen ist die AfD vor der CDU die stärkste politische Kraft geworden. Warum?
Die AfD ist nicht nur in den neuen Bundesländern stark geworden, sondern auch in Bayern und Baden-Württemberg, also genau dort, wo es lange eine starke Union gab, die ganz verlässlich den rechten Rand integrierte. Doch angesichts beziehungsweise innerhalb der »Merkel-CDU« misslang das immer mehr. Sogar die CSU wurde in dieser Hinsicht unglaubwürdig, und die sächsische Union erst recht. Die wurde lange Zeit mit ja geradezu kindlicher Anhänglichkeit gewählt. In Ostsachsen etwa, wo alle Wahlkreise an die AfD gefallen sind, gab es vorher besonders große CDU-Mehrheiten. Das alles ist die Revanche dafür, dass Rechte sich von ihrer früheren Lieblingspartei enttäuscht fühlen. Und weil in den neuen Bundesländern ohnehin viel geringeres Vertrauen in das politische System und seine Elite besteht als im Westen, und weil außerdem das Parteiensystem dort nur lose in der Gesellschaft verankert ist, kann eine Protestpartei besonders leicht stark anschwellen, wie einst NPD und DVU.
Und jetzt die AfD ...
Als die AfD sich im Sommer 2015 schon vor Beginn der großen Flüchtlingsbewegung zur Pegida-Partei gemacht hatte, setzte ihr neuer Aufschwung ein. Gerade bei der Migrationsthematik, bei der es ja auch um die Stabilität der deutschen Gesellschaft, die Zukunft des Sozialstaates, die Klärung und gegebenenfalls Bewahrung der schon länger im Land bestehenden Kultur ging, hatten früher die meisten auf die CDU gesetzt. Doch diese Partei brüskierte viele Deutsche, als die Kanzlerin erklärte und nie wieder davon abrückte: Ihr Pegida- und AfD-Leute, ihr habt keine wirklichen Sorgen, sondern tragt bloß »Kälte und Hass im Herzen«. Außerdem seid ihr Rassisten. Also ziehen wir einen dicken Trennstrich zwischen uns und euch.
Waren viele nicht längst Rassisten? Leipzigs Polizeipräsident Bernd Merbitz sagte im Gespräch mit dem Präsidium des Zentralrats der Juden, in Sachsen agitierten nicht nur ein paar Leute gegen Flüchtlinge, sondern es herrsche sogenannter Alltagsrassismus.
Zweifellos gibt es offenen und zudem vielerlei latenten Rassismus in Deutschland. Ich glaube aber nicht, dass in erster Linie dessen Aktivierung die so große Zahl der AfD-Wähler erklärt. Vielmehr haben sich im Vorfeld dieser Wahl sehr viele Leute auch mit ganz normalen, also nicht-rassistischen Einstellungsmustern radikalisiert. Sie haben im Rahmen ihres gesunden Menschenverstandes einfach, oft auch allzu einfach, auf ganz reale Probleme von Migration und Integration reagiert, wie sie spätestens 2015 unübersehbar wurden. Weil sie sich dabei gerade von der die längste Zeit über in Deutschland regierenden Partei, der CDU, im Stich gelassen fühlten, und von Linken oder Grünen erst recht, konnten sie von Rechtspopulisten besonders leicht angelockt werden. Und wenn man das alles nur mit Rassismus erklären wollte, müsste man schon einen sehr weiten Rassismusbegriff verwenden, der das Kernphänomen dann freilich allzu unscharf in den Blick bekäme: dass nämlich viel Zuwanderung in kurzer Zeit sehr leicht die Empfindung zeitigt, im eigenen Land fortan nicht mehr zu Hause oder beheimatet zu sein. Ob dieser Eindruck berechtigt ist oder nicht, ist im Übrigen zweitrangig gegenüber dem Sachverhalt, dass auch ganz irreale Vorstellungen höchst reale Gefühle und Handlungen auslösen können. Und gerade so ist es, vor allem im Osten, seit Pegida gewesen.
Die Stimmungsmache der AfD gegen Muslime kann schnell umkippen gegen andere Minderheiten: Teilen Sie diese Befürchtung von Zentralratspräsident Josef Schuster?
Im Grunde ja. Allerdings sind das vorrangige Feindbild vieler AfDler nicht Juden, sondern muslimische Araber, bei denen es, sehr milde formuliert, eine weit verbreitete Abneigung gegenüber Israel im besonderen und Juden im Allgemeinen gibt. Das führt dann oft zur Aussage, dass die AfD doch genau die Gegner von Juden ablehne, also selbst gerade nicht als eine Gefahr für Juden eingeschätzt werden könne. Doch gewiss muss man aufpassen, denn sobald traditionell-rassistische oder kulturalistisch-rassistische Denkfiguren geläufig sind, können sie ja mit beliebigen Inhalten gefüllt werden. Also muss man eine rechte Partei wie die AfD sehr gründlich daraufhin beobachten, ob und inwieweit antisemitische Töne auftreten. Das Beispiel des Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon in Baden-Württemberg schreckte da zu Recht.
Der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland findet, die Deutschen hätten wieder das Recht auf »Stolz« auf ihre Weltkriegssoldaten. Der FAZ wiederum sagte er: »Wenn (...) die Juden ins Meer getrieben werden, dann müssen wir in der Tat an der Seite Israels stehen«. Wie soll die jüdische Gemeinschaft mit solchen Politikern umgehen?
Misstrauisch bei den Worten, vorsichtig bei den Taten. Allgemein sollte man ein Gespür dafür entwickeln, wo AfDler sich einfach nur unbedarft ausdrücken, wo sie schlicht provozieren wollen – oder wo es ums Verschieben der Grenzen des akzeptabel Sagbaren geht. Je nachdem, was der Fall ist, muss man dann unterschiedlich reagieren. Insbesondere judenfeindliche Aussagen darf man nicht überhören oder hinnehmen. Sie gerade im stilprägenden Kulturbürgertum des 19. Jahrhunderts wie eine Normalität zu akzeptieren, hat ja am Ende zur verbrecherischen und entsetzlichen Schoa geführt.
Müssen wir uns große Sorgen machen?
Sorgen schon, aber bislang keine großen. Wir haben nämlich eine sehr sensible und fraglos an Humanität ausgerichtete Öffentlichkeit. Doch sehr wohl gibt es das Risiko, dass Unvernunft, übler Wille, Verbohrtheit, ideologisches Denken und rassistische Stereotypen fortan ungebremst und ungefiltert aus dem Parlament in die Öffentlichkeit kommen und von dort auf die Echokammern und Esstische der Nation zurückwirken. Dem aber gilt es zu wehren – zwar nicht pauschalisierend, doch mit unverhandelbarer Entschlossenheit.
Mit dem Professor für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden sprach Ayala Goldmann.