Da stecken die CIA, der KGB, der Mossad, Bill Gates und »der Rothschild« – oder ganz offen: »der Jude« – dahinter: Verschwörungstheorien wabern durch die Digitalwelt in die Büros, Wohn- und Kinderzimmer, poppen in sozialen Medien auf und zwitschern, manchmal millionenfach geteilt und gelikt, durchs Netz zum User.
»Verschwörungsideologien verbreiten sich rasend schnell in den sozialen Medien und im Internet«, äußert sich die Sozialpsychologin Pia Lamberty besorgt über wachsenden Antisemitismus und Rassismus. »Der digitale Hass wird nach wie vor unterschätzt, und es existiert wenig Wissen über die Funktionsweise und Dynamik, die im Netz herrschen.«
expertenteam Lamberty will künftig mit einem Expertenteam aus Psychologen, Linguisten und Sozialwissenschaftlern die Mechanismen dieser virtuellen Hass- und Verschwörungswelt untersuchen und sich damit einer neuen »Herausforderung für die Gesellschaft« stellen. Insgesamt 2,8 Millionen Euro hat die Alfred Landecker Foundation für den Aufbau und die interdisziplinäre Arbeit des gemeinnützigen »Center für Monitoring, Analyse und Strategie« (CeMAS) zur Verfügung gestellt.
Dessen Aufgabe, erläutert Lamberty, wird es sein, durch systematisches Monitoring zentraler digitaler Plattformen Zivilgesellschaft, Medien und Politik »Handlungsempfehlungen gegen Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus an die Hand zu geben«.
»Viele Debatten bewegen sich unterhalb des Schirms strafrechtlicher Bedeutung.«
Pia Lamberty
Im Gegensatz zu Initiativen, die antisemitische und rassistische Straftaten, Übergriffe und Beleidigungen im Netz registrieren und öffentlich machen, verfolgt und analysiert das CeMAS-Team Zusammenhänge, Diskussionsprozesse und Radikalisierungen in den Diskussions- und Mitteilungsplattformen. »Viele Debatten bewegen sich unterhalb des Schirms strafrechtlicher Bedeutung«, gibt Lamberty zu bedenken. »Wir wollen wissen: Wann kippt diese Sprache des Hasses in verbale Gewalt und Aufforderung dazu um?«
SZENE Nach der Erfahrung der Doktorandin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz lässt sich in den Foren sehr genau ablesen, wann aus Reden und Gewaltfantasien konkrete Überlegungen zur gewaltsamen Umsetzung werden. »Wir müssen die Szene verstehen, um in einer demokratischen Gesellschaft Handlungsmechanismen entwickeln zu können – zur Prävention und Bekämpfung von Hass und Hetze, die in Gewalt umschlägt.«
Beispiele gibt es einige, bei denen die Debatten in Foren wie dem Messengerdienst Telegram die späteren Taten vorweggenommen haben, erklärt die Psychologin: der gewaltsame Angriff von Trump-Anhängern auf den US-Kongress im Januar dieses Jahres in Washington nach einer Rede des damals noch amtierenden, aber bereits abgewählten US-Präsidenten etwa oder die Erstürmung der Stufen zum Reichstag im August vergangenen Jahres; oder Aktionen bei Anti-Corona-Demonstrationen wie in Kassel und Dresden, die in Gewalt umgeschlagen sind. »Das waren Aktionen mit Ansage, deren Basis in den Netzforen vorbereitet wurden«, sagt Pia Lamberty.
Es komme nicht nur darauf an, Daten zu sammeln, sondern auch darauf, die Phänomene dahinter zu verstehen.
Aber es komme nicht nur darauf an, Daten zu sammeln. »Es kommt darauf an, die Phänomene dahinter zu verstehen«, betont Lamberty. An der digitalen Präsenz des inzwischen polizeilich gesuchten Kochs Attila Hildmann, einem der Wortführer von Hass und Hetze, lasse sich sehr genau erkennen, wie Antisemitismus sich hinter Begriffen wie »Rothschild« und anderen kryptischen Klischees verstecke und umschlage, indem konkret von »der Jude« gesprochen werde. »Diese Entwicklung lässt sich anhand unserer Daten genau verfolgen.« Mit der Analyse von sozialen Medien und Internetforen will CeMAS aufzeigen, was eine »Online-Mobilisierung in der sogenannten Offline-Welt macht, denn digitale und analoge Gewalt sind zwei Seiten derselben Medaille«.
VERSCHIEBUNGEN Vielleicht lässt sich die Arbeit der Wissenschaftler am besten mit der Arbeit von Erdbebenforschern vergleichen, die die tektonischen Verschiebungen der unterschiedlichen Erdplatten genauestens registrieren und durch Hochrechnungen und Erfahrungswerte Risiken für vulnerable Kontinente und Landstriche herausfinden, damit Spezialisten Gefahren für Land und Leute frühzeitig kennen und handeln können – als Seismografen für gesellschaftliche Verwerfungen.
Denn: »Es braucht nicht nur eine Datenquelle, um ein Phänomen zu verstehen, sondern ein Frühwarnsystem mit analytischem Instrumentarium an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft«, sagt die Sozial- und Rechtspsychologin Pia Lamberty.