Kfir, 6 Monate altes Baby; Gadi Haggal, 73 Jahre alt; Judith Lynne, 70 Jahre alt; Erez Kalderon, 12 Jahre alt; Shiri Bibas, 33 Jahre alt; Yarden Bibas, 34 Jahre alt.
Es sind Namen und Altersangaben auf den Plakaten. Dazu jeweils ein Foto. Lachende Gesichter, fröhliche Menschen. Wären da nicht die großen weißen Buchstaben auf rotem Grund darüber: »Vermisst«. Und: »Entführt von der Hamas«.
Mit Suchplakaten wie diesen weist die Berliner Synagogengemeinde am Fraenkelufer auf das Schicksal von Vermissten in Israel hin. Diese Menschen sind von der Terrororganisation Hamas in den Gazastreifen verschleppt worden. Mehr als 200 Frauen, Kinder, Familien und Senioren werden noch vermisst. Ihr Schicksal ist unbekannt. Ihre Gesichter und ihre Namen sind es nicht.
Mit diesen Plakaten empfängt die Gemeinde auch den Bundespräsidenten. Frank-Walter Steinmeier ist es ein Anliegen, an diesem sechsten Tag nach dem Angriff der Hamas auf Israel ein Zeichen zu setzen. Kurzfristig hat er einen Solidaritätsbesuch am Freitag in der Synagoge angekündigt. Für die Presse gibt es Fotos und ein Statement. Das Gespräch mit den Gemeindemitgliedern und ihren Freunden findet im vertraulichen Kreis ohne Kameras und Mikrofone statt.
Mit dabei sind Nina Peretz aus dem Vorstand der Synagogengemeinde, Gideon Joffe, der Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und Daniel Botmann, der Geschäftsführer des Zentralrates der Juden in Deutschland.
Die Nachrichten und Bilder der vergangenen Tage seien kaum auszuhalten, sagt der Bundespräsident nach dem Gespräch wieder für die Kameras. »Wir ringen noch darum, die Ereignisse zu begreifen und sind doch jetzt schon gefordert, Konsequenzen zu ziehen.«
Es habe blutige Kriege im Nahen Osten gegeben, schreckliche Terroranschläge und Raketenbeschuss. »Aber das Eindringen von mehr als 1500 schwer bewaffneten Terroristen nach Israel, die Jagd auf Jüdinnen und Juden machen, Menschen aus ihren Autos zerren, die von Haus zu Haus gehen, jeden ermorden, der in ihre Hände fällt, Eltern mit ihren Kindern, die ein Massaker verüben an den jungen Besuchern eines Musikfestivals, die Menschen in Todesangst verhöhnen, als Geiseln in den Gazastreifen verschleppen - ein solches Maß an roher Gewalt, eine solche unvorstellbare Brutalität und Grausamkeit haben wir zuvor in Israel nicht erlebt.« Man merkt Steinmeier an, dass er hier alles andere als einen Routinetermin absolviert.
Auch die Gemeinde muss für die Journalisten improvisieren. Sicherheitsvorkehrungen sind sie gewohnt. Wenn der Bundespräsident kommt, werden sie ohnehin erhöht. An diesem Tag aber haben sie noch einmal einen anderen Stellenwert.
»Auch für die deutschen Juden ist der heutige Freitag ein Tag der Angst«, sagt Steinmeier nach dem vertraulichen Gespräch mit den Gemeindemitgliedern. »Deshalb ist mein Platz heute unter ihnen.«
So kurzfristig der Termin, so bedacht ist der Ort ausgewählt: Die Synagoge am Fraenkelufer war einst eine der größten Synagogen der Stadt, bevor sie in den Novemberpogromen der Nazis und durch Kriegsschäden weitgehend zerstört wurde. Heute ist die Synagoge in Kreuzberg in einem erhalten gebliebenen Nebengebäude untergekommen. Hier fand nach dem Krieg im Herbst 1945 der erste offizielle jüdische Gottesdienst in Berlin statt, wie der Bundespräsident unterstrich.
Hier wollte er heute sein. Gerade an einem Tag, an dem die Hamas weltweit zu Anschlägen auf jüdisches Leben aufgerufen hat. »Jeder von uns kann unseren Nachbarn und Mitbürgern beistehen in ihrem Schmerz und ihrer Angst«, sagt der Bundespräsident. »Wir können sie trösten, können bei ihnen sein, ihnen Mut machen, uns vor sie stellen. Das wünsche ich mir jetzt, nein, dass erwarte ich mir jetzt von allen Menschen, die in unserem Land leben, und zwar unabhängig von Herkunft, Erfahrung und Religion.«
Am Abend wollten Nachbarn zur Synagoge kommen, um den Gottesdienst zum beginnenden Schabbat mit ihrer Anwesenheit zu schützen. An vielen Orten Deutschlands täten es andere ihnen gleich, sagt der Bundespräsident. Seine Stimme ist noch ernster als sonst. Er schüttelt viele Hände. In stiller Anteilnahme. Mit wenigen Worten. Bevor er geht, sagt er noch: »Lassen wir nicht zu, dass Mörder und Terroristen einen Keil in unsere Gesellschaft treiben. Die Angst ist groß. Ja. Aber der Zusammenhalt ist stärker.«