Inge Auerbacher

»Die Angst ging nie ganz weg«

Inge Auerbacher Foto: imago/ZUMA Press

Das Erste, was an Inge Auerbacher auffällt, ist ihr astreiner schwäbischer Dialekt. »Hei de nei, wer do jetz alles ooruft«, stöhnt sie in die Kamera ihres PC, der auf einem Schreibtisch eines Apartmenthauses tief im New Yorker Stadtteil Queens steht. »Sogar der Schäuble het sich bei mir gmeldet.«

Dass Inge Auerbacher seit 1946 in New York lebt, merkt man erst, als zwischendurch ein Anruf ihrer Arztpraxis kommt. Dann strömt aus ihr ein klarer, harter New Yorker Dialekt heraus, mit dem sie barsch die Sprechstundenhilfe und ihre umständlichen Versicherungsfragen abbürstet.

Dann wieder zurück ins liebliche Schwäbisch und zum Thema: ihrem Besuch in Deutschland, der sie ein wenig nervös macht, obwohl die 88-Jährige eine geübte Weltreisende ist. Sie ist eingeladen, am 27. Januar vor dem Bundestag zu sprechen, zum Holocaust-Gedenktag. »Das schafft nicht jeder«, sagt sie ein wenig stolz.

HERKUNFT Inge Auerbacher ist ausgewählt worden, als Schoa-Überlebende Deutschland an seine Vergangenheit zu erinnern. Die Wahl des Parlaments hätte keine Bessere treffen können. Die deutsche Herkunft spricht aus jeder Faser von Auerbacher, die 1934 in der schwäbischen Kleinstadt Kippenheim geboren wurde.

Am 27. Januar in Berlin wird jedem, der zuhören will, unüberhörbar klar, dass die rund 500.000 deutschen Juden, die von den Nazis ermordet oder vertrieben wurden, keine Fremden waren, sondern Nachbarn, Freunde und deutsche Bürger.

Und genau das ist eine der zentralen Botschaften, die die quicklebendige Frau, die noch immer ein mädchenhaftes Funkeln in ihren dunklen Augen hat, aus New York mit nach Berlin bringen möchte. »Ich möchte allen sagen, dass wir gute Deutsche waren. Vorbildliche Deutsche.«

Ihre Großmutter, Mutter von vier Kriegsveteranen, wurde 1941 nach Riga deportiert.

In der Tat hätten die Auerbachers im wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik kaum vorbildlichere Bürger sein können. Ihr Vater Berthold und seine drei Brüder kämpften, wie viele Juden, begeistert im Ersten Weltkrieg. Zwei von Bertholds Brüdern kamen dabei ums Leben, Inge Auerbachers Vater, ein Textilhändler, trug eine schwere Verletzung davon.

OMA Doch das Vaterland dankte es Inge Auerbachers Großmutter schlecht. Die Mutter von vier Weltkriegsveteranen wurde 1941 nach Riga deportiert. Inge Auerbacher, damals knapp sieben, muss noch immer mit den Tränen kämpfen, wenn sie sich daran erinnert, wie ihre Oma am Stuttgarter Bahnhof die Treppen hinab- und ihrem Schicksal entgegenlief. Es war das letzte Mal, dass Inge und ihre Eltern die Großmutter sahen.

Immerhin bewahrte Berthold Auerbachers Dienst im Ersten Weltkrieg und die Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz Inge und ihre Eltern lange Zeit vor der vollen Wucht der sogenannten Endlösung. Inges Vater kam zwar unmittelbar nach der Pogromnacht nach Dachau, doch er kehrte nach wenigen Wochen zurück.

Der Warnschuss kam an. Berthold Auerbacher, dessen Familie seit Jahrhunderten als Viehhändler im Schwäbischen gelebt hatte, ließ nun endlich den Gedanken an Flucht zu. Doch für eine einfache Familie vom Land, ohne Verbindungen und Vermögen, war es damals schon praktisch unmöglich, noch aus Deutschland herauszukommen.

SCHAM So schlugen sich die Auerbachers unter immer schwierigeren Bedingungen in Deutschland durch. Das Haus in Kippenheim musste verkauft werden, man zog zur Familie der Mutter in den Ort Jebenhausen bei Göppingen. Die Eltern mussten für einen Hungerlohn in einer Wäschefabrik arbeiten. Inge, die bis heute stolz ihren deutschen Vornamen trägt, musste sich den Namen Sara in den Ausweis eintragen lassen und einen Judenstern anheften.

Der Besuch einer deutschen Schule war nicht mehr erlaubt, sie musste jeden Tag eine Stunde mit dem Zug in die einzige jüdische Schule der Gegend fahren.

Dabei erinnert sie sich schmerzlich an die Scham, mit der sie zu kämpfen hatte, wenn sie mit dem Stern im Zug saß, und ihre verzweifelten Versuche, ihn irgendwie zu verstecken. Und an die Hänseleien und Beschimpfungen der anderen Kinder, wenn sie doch den Stern entdeckten.

DEPORTATION Am 22. August 1942, sieben Monate nach der Wannsee-Konferenz, kam dann das Unausweichliche. Die Familie Auerbacher erhielt ihren Deportationsbefehl, Inge Auerbacher wurde zur Nummer XII-1-408.

Wie viele Familien von Weltkriegsveteranen kamen die Auerbachers nach Theresienstadt, das den Deportierten selbst und der Weltöffentlichkeit als eine »Vorzeigesiedlung für jüdische Mitbürger« verkauft wurde. Noch in einem Propagandafilm von 1944 wurden aus der ehemaligen tschechischen Garnisonsstadt Konzerte und Fußballspiele gezeigt. Scheinbar gesunde jüdische Kinder fragten den gütigen Kommandanten Rahm, ob es denn schon wieder Sardinen zu essen gebe.

Die Realität in Theresienstadt war freilich eine ganz andere. Das Lager war völlig überfüllt, noch kurz vor dem Abdrehen des Propagandafilms veranlasste Adolf Eichmann Großtransporte nach Auschwitz, um die Optik zu verbessern.

THERESIENSTADT Inge und ihre Familie wohnten mit 50 anderen Insassen in einer Baracke. Inge musste meist, mit ihrer Puppe im Arm, auf dem nackten Boden schlafen. Von Sardinen war keine Rede, eine Kartoffel war ein Luxus, Inges Vater suchte das Lager nach Pferdeknochen ab, die man auskochen konnte. Theresienstadt war kein Vernichtungslager, aber es war ein Vorhof zu Auschwitz.

Man wusste nicht, was Auschwitz ist, erinnert sich Inge Auerbacher, aber man lebte in ständiger Furcht, auf einen jener Transporte nach Osten zu kommen, die regelmäßig Theresienstadt verließen, in ein Lager, wo die Zustände noch viel schlimmer sein sollten. Noch heute, sagt Inge Auerbacher, wache sie mit Albträumen auf, dass sie in einen solchen Zug steigen muss.

Noch heute wache sie mit Albträumen auf, dass sie in einen solchen Zug steigen muss.

Es glich einem Wunder, dass alle drei Auerbachers Theresienstadt überlebten. Von den 140.000 Insassen von Theresienstadt wurden 88.000 nach Auschwitz deportiert, 35.000 starben an Krankheit und Unterernährung. Immer wieder musste Inge Auerbacher erleben, wie ihre Spielkameradinnen, kleine Mädchen ihres Alters, in die Güterzüge getrieben wurden.

BEFREIUNG Inge Auerbacher wird einmal mehr aus ihrem Erzählfluss herausgerissen, das Telefon klingelt erneut. Es ist noch einmal die Arztpraxis, die wissen will, ob sie auch die richtige Versicherung hat. »Ich habe ihnen doch schon dreimal gesagt, dass ich PPO habe. Außerdem bin ich mitten im Gespräch«, raunzt sie die Dame am anderen Ende der Leitung an und legt dann auf. »Das ist das Schlimmste hier, mit der Krankenversicherung«, sagt sie dann wieder in ihrem Schwäbisch. Es ist einer der seltenen Momente, in denen sich Inge Auerbacher nach Deutschland wünscht.

Inges Erinnerung an die Befreiung ist noch so frisch, als wäre es gestern gewesen. Sie kann sich an den Gefechtslärm erinnern, der dem Lager immer näher kam, während die russische Panzerdivision vorrückte. Sie erinnert sich an Papiere, die durch die Luft flogen, während die Nazis flohen und versuchten, Dokumente zu vernichten. Sie erinnert sich an das Donnern der Handgranaten, welche die Deutschen noch wahllos auf die Unterkünfte warfen. Und sie erinnert sich daran, dass ihr Vater, der Kriegsveteran, sagte: »Jetzt geht’s wieder los.«

Und dann war plötzlich alles vorbei. Sie waren frei. Doch fassen konnte es keiner von ihnen so recht. Noch in den Vertriebenenlagern in Stuttgart und später im Heimatdorf ihrer Mutter, Jebenhausen, erinnert sich Inge Auerbacher, fragte sie sich jeden Tag, ob sie tatsächlich jetzt einfach hinausgehen und spielen kann, wie ein ganz normales Kind.

AMERIKA »Die Angst ging nie ganz weg«, sagt Inge Auerbacher. Auch nicht, als die Familie im Jahr 1946 auf einen Zug nach Bremerhaven geladen wurde, um sich nach New York einzuschiffen. Würde dieser Zug sie tatsächlich in die Freiheit bringen? Oder hatte er nicht doch ein düsteres Ziel?

Die Atlantik-Überquerung und die Ankunft im Hafen von New York barg für die Auerbachers, wie für Millionen Einwanderer vor ihnen, das Versprechen des Neubeginns, die Hoffnung, all das Schlimme hinter sich zu lassen. Doch insbesondere für Inge sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen.

Noch bevor sie in New York eingeschult werden konnte, bekam Inge Auerbacher Tuberkulose, zweifelsohne das Ergebnis der Unterernährung und der schlimmen hygienischen Zustände im Lager.

Die Krankheit riss sie aus einem Leben heraus, das noch nicht richtig begonnen hatte. Und es brachte die Familie, die ohnehin mit dem wirtschaftlichen Neuanfang in einem fremden Land zu kämpfen hatte, an finanzielle Grenzen.

TRAUM Für Inge fühlte es sich so an, als würde sie erneut eingesperrt. Beinahe vier Jahre brachte sie insgesamt mit langen Krankenhaus-Aufenthalten zu. Der Fluch von Theresienstadt, der ihr die Kindheit genommen hatte, raubte ihr nun auch einen großen Teil ihrer Jugend.

Und er raubte ihr ihren Traum, einmal Ärztin zu werden. Die Jahre ihrer Ausbildung, die Inge verloren hatte, konnte sie nicht mehr aufholen, und als sie alle Abschlüsse gemacht hatte, war sie zu alt, um in den USA Medizin zu studieren.

Die Lage führte sie in Versuchung, nach Deutschland zurückzukehren, die Universität Heidelberg bot ihr einen Platz an der medizinischen Fakultät an. Trotz innerer Widerstände und dem Einspruch ihrer Mutter entschloss sich Inge, es zu probieren.

Das Schwäbische steckt ihr in der Kehle. Dennoch bleibt der Zwiespalt zu Deutschland.

Doch als am Ende einer Maifeier rechte Studentenbünde unter ihrem Fenster grölend durch die Gassen zogen, hielt sie es nicht mehr aus. Sie stieg in den nächsten Flieger zurück nach New York.

NACHBARN Inge Auerbacher verbrachte trotzdem ein erfolgreiches und erfüllendes Berufsleben als Chemikerin in New York. Und in ihrem Viertel in Queens fühlt sie sich genau am richtigen Platz: »Meine Nachbarn sind Hindus, Muslime und Christen, Afroamerikaner, Asiaten und Weiße – und alle kommen miteinander aus. We all get along«, sagt sie auf Amerikanisch.

Das Verhältnis zu Deutschland bleibt hingegen kompliziert, Heimat ist ganz gewiss nicht der richtige Begriff für das, was Deutschland für sie bedeutet. Sie fühlt sich wohl, wenn sie heute hinfährt, »ich habe viele gute Freunde, liebe Menschen«. Aber der Zwiespalt bleibt, die Distanz, das Gefühl, nie mehr hier wirklich dazugehören zu können, auch wenn das Deutsche ihr in den Knochen und in der Kehle steckt.

Die deutsche Staatsbürgerschaft möchte sie jedenfalls nicht. »Wenn sie mich in den USA nicht mehr wollen, gehe ich nach Israel«, sagt sie. Doch es schwingt kein Zorn mit, wenn sie das sagt. »Hass macht einen nur krank«, sagt sie. Es ist vielmehr die Akzeptanz einer Gefühlswelt, die sich für jemanden wie sie einfach nicht mehr ändern lässt.

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