Vor einer Woche hat der Bundestag über ein Papier debattiert, das ihm seit einem Jahr vorliegt. Es ist der Bericht »Antisemitismus in Deutschland«, den eine Expertenkommission erarbeitet hat, zu der auch ich gehörte. Warum sich der Bundestag nicht schon früher die Aufgabe stellte, politische Lehren aus einem Bericht zu ziehen, den er selbst angefordert hat und dessen Aktualität von niemandem bestritten werden kann, muss verwundern.
Vermutlich waren es der Überfall auf einen Rabbiner mitten in einem Berliner Wohnviertel, die Mordanschläge in Frankreich und auch die vermehrt gemeldeten Pöbeleien gegen Juden auf offener Straße, die die Bundestagsparteien veranlassten, Bericht und Thema endlich zu behandeln. Aber wer am Mittwoch vergangener Woche im Berliner Reichstagsgebäude war, wer die Debatte im Fernsehen verfolgt oder sie als Bundestagsdrucksache nachgelesen hat, muss sich ernsthaft fragen, zu welchem Zweck sie überhaupt angesetzt wurde.
Wille Ein seriöser Wille jedenfalls, die Arbeit der Expertenkommission in tragfähige Politik zu übersetzen, sprich: Judenhass wirklich und nachhaltig zu bekämpfen, ließ sich nur bei wenigen Abgeordneten erkennen. Bei sehr wenigen. Es scheint, als ob nur Wolfgang Thierse (SPD), Petra Pau (Linke) und Volker Beck (Grüne) die Brisanz des Themas erkannt hätten. Einzig sie argumentierten, dass es notwendig sei, zumindest einmal pro Legislaturperiode einen Bericht von einem unabhängigen Expertengremium erstellen zu lassen.
Diese Forderung, die darauf basiert, dass Antisemitismus ein wachsendes und sich auch stets veränderndes gesellschaftliches Phänomen ist, wurde nicht von allen Sprechern in der Debatte geteilt. Maria Flachsbarth, die für die größte Fraktion, die CDU/ CSU, sprach, plädierte dafür, was wohl auch Regierungsmeinung ist: dass nämlich künftig nicht ein unabhängiges Expertengremium den Bericht erarbeiten solle, sondern dass es genüge, wenn die Behörden regelmäßig berichteten.
Während man sich mit dieser Position noch ernsthaft auseinandersetzen kann, waren manche Äußerungen derart deplatziert, dass man als Zuhörer das Gefühl hatte, manche Redner wüssten gar nicht, worüber sie sprachen. Für Kopfschütteln sorgte beispielsweise der CSU-Abgeordnete Hans-Peter Uhl, der in der Debatte darauf verwies, dass doch in jüngster Zeit die Mittel des Zentralrats der Juden von fünf auf zehn Millionen Euro jährlich aufgestockt worden seien. Was diese Bemerkung mit dem Bericht des Expertengremiums zu tun hat, erschloss sich nicht. Sollte damit etwa zum Ausdruck gebracht werden, dass die Bekämpfung des Antisemitismus nicht Aufgabe der Politik sei, sondern des Zentralrats der Juden? Die Angegriffenen sollen selbst dafür sorgen, wenn sie künftig nicht mehr attackiert werden wollen? Und der Staat schaut desinteressiert zu? Das wäre ein starkes Stück!
Zweifel Als Hans-Peter Uhl auch noch erklärte, dem Bundesinnenministerium könnten keine Vorwürfe gemacht werden, dass es die Vorschläge des Expertengremiums nicht umgesetzt hat, da diese »etwas dünn« seien, meldeten sich schon fast überwunden geglaubte Zweifel wieder, ob es die Koalition wirklich ernst meint mit der Bekämpfung des Antisemitismus. Zumal Herr Uhl auch nicht die Spur eines Hinweises gab, was genau denn in dem Papier »etwas dünn« sei.
Die Studien, die von uns in der Expertenkommission ausgewertet wurden, zeigen fast übereinstimmend, dass etwa 15 Prozent der Bevölkerung offen antisemitisch eingestellt sind. Bei weiteren 20 Prozent der Bundesbürger ist Antisemitismus in Latenz feststellbar. Wir haben es also nicht mit einem Randgruppenphänomen zu tun, das nur Neonazis und ein paar Muslime betreffen würde. Antisemitismus findet sich im Zentrum der Gesellschaft.
Beschneidung Logischerweise stellt sich – nicht erst seit vergangenem Mittwoch – die Frage, warum es ausgerechnet unter den Abgeordneten keine Antisemiten geben sollte. Es gibt sie. Und ab und zu können wir Kostproben aus Parlamentariermündern hören – wie etwa jüngst in der Beschneidungsdebatte. Diese Wortmeldungen lassen einen zusammenzucken. Charlotte Knobloch, die einstige Präsidentin des Zentralrats der Juden, war über manche Äußerungen derart empört, dass sie öffentlich die Frage stellte: »Wollt ihr uns Juden eigentlich noch?«
Regelmäßig vorgelegte Berichte zum Antisemitismus in Deutschland, seinem Umfang, seiner Entwicklung und wie man ihn bekämpfen kann, sind weiterhin wichtig. Das gilt auch dann, wenn sie nicht jeder versteht. Nicht zuletzt sind es Dokumente, auf die man sich berufen kann. Niemand kann dann sagen: Oh Gott, oh Gott, das habe ich nicht gewusst.
Aus den jüngsten, sehr ernüchternden Erfahrungen, wie der Bundestag mit dem von ihm selbst angeforderten Expertenbericht umgegangen ist, lässt sich aber zumindest die Frage ableiten, ob unbedingt Vertreter des Judentums an diesen Berichten mitwirken sollen. Ich bin mir da nicht sicher. Es sind schließlich die Nichtjuden, die sich um die Bekämpfung des Antisemitismus zu kümmern haben. Die Aufgabe der Juden sollte das nicht sein.
Der Autor ist Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam und (Noch-)Mitglied der Antisemitismus-Expertenkommission des Bundestags.