Redezeit

»Die Ägypter sind enttäuscht«

Hamed Abdel-Samad Foto: imago

Herr Abdel-Samad, nach dem Sturz von Präsident Mubarak Anfang des Jahres war die Euphorie unter den Ägyptern sehr groß, viele erhofften sich einen raschen Aufbau von demokratischen Strukturen. Wie ist heute, genau neun Monate nach der Revolution, die Stimmung im Land?
Die Ägypter sind enttäuscht und frustriert. Viele, die auf dem Tahrir-Platz gegen Mubaraks Regime demonstrierten, müssen nun feststellen, dass Freiheit, Rechtssicherheit und wirtschaftliche Reformen nicht in dem Tempo umgesetzt wurden, wie sie es erwartet hatten. Wir befinden uns also im leider ganz normalen Chaos einer postrevolutionären Zeit. Nach über 30 Jahren Diktatur ist das wenig verwunderlich. Keiner konnte erwarten, dass sofort eine lupenreine Demokratie entsteht. Es findet nach wie vor ein Tauziehen zwischen alten und neuen Kräften statt.

Wie ist es zu erklären, dass der regierende Militärrat sich entgegen seiner anfänglichen Zusagen nun dauerhaft an die Macht zu klammern versucht?
Meine These ist, dass die Generäle etwas zu verbergen haben. Sie möchten nicht, dass entdeckt wird, was sie alles in der Ära Mubarak getan haben. Denn der ein oder andere von ihnen hat sicherlich noch die ein oder andere Leiche im Keller liegen. Schon allein deshalb will der Militärrat eine umfassende Demokratie verhindern. Nicht ohne Grund begünstigt das neue Wahlgesetz die Anhänger des alten Regimes. Im Falle eines Sieges dieser Politiker würde das die notwendige Öffnung und Aufarbeitung aller Akten selbstverständlich verhindern.

Seit der Revolution haben über 100.000 Kopten aus Angst vor Verfolgung das Land verlassen, die israelische Botschaft wurde von einem wütenden Mob gestürmt, und der Militärrat verhaftet und foltert willkürlich Oppositionelle. Ist aus dem »Arabischen Frühling« in Kairo nicht schon längst ein grauer Herbst geworden?
Das alles ist in der Tat absolut furchtbar und steht im denkbar größten Gegensatz zum Geist der friedlichen Proteste auf dem Tahrir-Platz. Die Revolution wurde vom Militärrat gehijackt. Dennoch ist mein Eindruck, dass die Demokratiebewegung ihre Ziele nicht aus dem Blick verliert. Der Kampf der Kulturen zwischen Militärrat und Demokratiebewegung, zwischen den Islamisten und den Liberalen ist im vollen Gang. Der Ausgang dieses Kulturkampfes wird zeigen, ob Ägypten sich zu einer modernen Demokratie oder zu einem Staat mit politischer Verwahrlosung samt wirtschaftlicher Katastrophe entwickeln wird.

Derzeit deutet alles auf einen Sieg der Muslimbrüder und der Salafisten hin. Umfragen zufolge können sie bei den in vier Wochen anstehenden Parlamentswahlen mit rund 70 Prozent der Stimmen rechnen.
Das ist besorgniserregend, aber man kann dagegen nichts tun. Demokratie beinhaltet eben immer auch die Möglichkeit, dass denkbar ungeeignete Parteien an die Macht kommen. Was nun die Umfragen betrifft: Ich gehe davon aus, dass es am Ende circa 40 Prozent für die Muslimbrüder sein werden, weswegen sie eine Allianz mit einer anderen Partei eingehen müssen. Das wird sie disziplinieren.

Inwiefern?
Wenn sie erst einmal die Macht in den Händen halten, werden sie zwangsläufig pragmatischer agieren müssen. Sie müssten sich bewähren und das Land wirtschaftlich voranbringen. Sie könnten es sich zum Beispiel gar nicht erlauben, den Tourismus oder Handel mit den USA zu verbieten.

Die Erfahrung aber zeigt doch, dass islamistische Kräfte den Absturz der Wirtschaft ihres Landes billigend in Kauf nehmen, um ihre religiöse Ideologie durchzusetzen. Siehe Iran.
Ich bin der Letzte, der die Muslimbrüder in Ägypten verharmlosen würde, aber sie ähneln nicht den iranischen, sondern eher den türkischen Islamisten, die die säkulare Verfassung nicht angerührt und die Wirtschaft erfolgreich reformiert haben. Was ich sagen will: Wenn die Muslimbrüder das ägyptische Volk nicht in Lohn und Brot bringen, werden sie ganz schnell wieder abgewählt oder wie Mubarak gestürzt. Die Ägypter haben Anfang des Jahres auf dem Tahrir-Platz gegen Mubarak und für freie Wahlen protestiert. Dazu muss man nun stehen und das Experiment Demokratie wagen – auch wenn einem der bevorstehende Sieg der Islamisten extrem missfällt.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wohl ausgerechnet die Islamisten von der Demokratiebewegung am meisten profitieren werden, obwohl diese sich erst sehr spät gegen Mubarak positioniert haben.
Ja, die Revolution kam nicht wegen, sondern trotz des Islams zustande. Alle Religiösen haben vor den Aufständen die jungen Menschen davor gewarnt, auf die Straße zu gehen - sowohl in Tunesien als auch in Ägypten und Libyen. Die Muslimbrüder in Ägypten bezeichneten die Aufstände als unislamisch, als Versuch der Spaltung der Gesellschaft. Sie haben sich der Revolution erst angeschlossen, als diese schon erfolgreich war. Es war all die Jahre ein ungeschriebenes Geheimnis, dass sie einen Deal mit Mubarak hatten. Im Nachhinein bezeichnen sie die Revolution als islamisch, gottgewollt und was weiß ich noch alles – sie sind bigott bis dort hinaus.

Israel hat seinerzeit auf die Revolution in Ägypten sehr zurückhaltend reagiert. Die USA sehen den jüdischen Staat in der Region »zunehmend isoliert«. Sie hingegen beschreiben in Ihrem neuen Buch den »Arabischen Frühling« als große Chance für Israel.
Israel hat mit Mubarak zwar einen Partner verloren, der zumindest nach außen für Frieden mit Israel stand. Nach innen aber hat Mubarak es stets verstanden, die große Unzufriedenheit in Ägypten auf Israel und die Juden zu lenken. So konnte er von den allgegenwärtigen hausgemachten Problemen geschickt ablenken. Das fällt nun zum Glück weg, denn der antisemitischen Rhetorik der Muslimbrüder glaubt heute kein Mensch mehr in Ägypten. Der »Arabischen Frühling« birgt darüber hinaus aber auch deshalb eine große Chance, weil er ein Vorbild für die Palästinenser im Gazastreifen sein sollte, sich von der inneren Besatzung der Hamas zu befreien. Der Gedanke der Tahrir-Revolution muss auch in Gaza ankommen.

Wie realistisch ist das?
Wenn die Menschen in Gaza tatsächlich einen eigenen Staat wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig. Denn Israel kann verständlicherweise nicht mit der Hamas verhandeln, weil deren erster Punkt auf der politischen Agenda die Auslöschung Israels ist. Die Lösung des Nahost-Konflikts liegt deshalb klar auf der Hand: Der Weg zu einem eigenen Staat führt über den Tahrir-Platz – und nicht etwa über die UNO oder die UNESCO. Aber auch Israels Bürger können von der Revolution insofern lernen, als dass sie Druck auf ihre Regierung machen, endlich alles für die Zwei-Staaten-Lösung zu tun. Ich hoffe sehr, dass die Revolution in Ägypten langfristig sowohl für Israel als auch für die Palästinenser ein Gewinn sein wird.

Das Gespräch führte Philipp Engel.


Hamed Abdel-Samad wurde 1972 als Sohn eines sunnitischen Imams in der Nähe von Kairo geboren. Er arbeitete für die UNESCO, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft in Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Er gilt als profilierter islamischer Intellektueller und wurde von Innenminister Thomas de Maizière in die Deutsche Islam Konferenz berufen. Sein aktuelles Buch »Krieg oder Frieden: Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens« ist bei Droemer erschienen.

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