Herr Salzborn, Sie gelten als ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Antisemitismusforschung, nun sind Sie Berliner Antisemitismusbeauftragter. Warum Ihr Wechsel von der Wissenschaft in die Politik?
Wir wissen aus der Antisemitismusforschung viel über Entstehungsbedingungen von Antisemitismus und auch potenziell erfolgversprechende Wege seiner Bekämpfung. Ich sehe es als große Herausforderung, mit diesem wissenschaftlich fundierten Wissen zu versuchen, die praktischen Bemühungen, die es in Berlin ja schon lange gibt, weiter zu stärken und auszubauen. Und ich erhoffe mir, einen Beitrag zur weiteren Verbesserung der Beziehungen zwischen jüdischen Organisationen, allen, die an der Bekämpfung von Antisemitismus interessiert sind, und dem Berliner Senat leisten zu können.
Warum braucht Berlin einen Antisemitismusbeauftragten?
Antisemitismus ist eines der zentralsten Probleme der deutschen Gesellschaft. Zugleich ist die Abwehr gegen eine Befassung mit Antisemitismus gesellschaftlich nach wie vor groß. So lange das so ist, bedarf es aller politischen Bemühungen im Kampf gegen Antisemitismus – in Berlin, aber auch in jedem anderen Teil der Republik.
Was wollen Sie in Ihrem Amt erreichen?
Mein langfristiges Ziel ist es, die drei Säulen Prävention, Intervention, Repression stärker miteinander zu integrieren, jüdisches Leben in der Berliner Stadtkultur wieder völlig selbstverständlich zu machen und das stark erodierte Sicherheitsgefühl bei Jüdinnen und Juden wiederherzustellen. Kurzfristig werden wir aber leider immer wieder auf Antisemitismus reagieren müssen, da Antisemiten – online wie offline – gegenwärtig sehr offen, aggressiv und gewaltaffin agieren.
Sie befassen sich mit dem Thema Antisemitismus seit vielen Jahren. Woher rührt Ihr starkes Interesse daran?
Aus einer massiven gesellschaftlichen Ignoranz, die ich bereits als Jugendlicher während meiner politischen Sozialisation in den frühen 90er-Jahren kennenlernte und die mich bis heute irritiert und ärgert: die Ignoranz gegenüber Antisemitismus, der verharmlost, nivelliert, bagatellisiert oder geleugnet wird.
Warum ist Judenfeindschaft noch immer ein Problem in der deutschen Gesellschaft?
Der Schlüssel hierfür ist die jahrzehntelange Tradierung der Erinnerungsabwehr und der Täter-Opfer-Umkehr. Während sich politisch hier seit den späten 90er-Jahren einiges verändert hat, ist die Erinnerungs- und Schuldabwehr und damit der Antisemitismus in der Bevölkerung bis heute lange tradiert. Der Glaube, es habe eine tatsächliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gegeben, ist leider Illusion einer marginalen Minderheit der Gesellschaft, die an sie glaubt, weil sie für sie persönlich gilt. Wenn wir ehrlich sind, stehen wir nach wie vor ganz am Anfang einer wirklichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.
Mit dem neuen Berliner Antisemitismusbeauftragten sprach Maria Ugoljew.