Geschichte

Dichter, Freigeist, Pazifist

Als »Selbstmord« wurde sein Tod im nationalsozialistischen Deutschland ausgegeben. Doch der angebliche Suizid von Erich Mühsam (1878–1934) war in Wirklichkeit ein Mord: Der Schriftsteller wurde in der Nacht zum 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von der SS umgebracht.

Der gewaltsame Tod des Anarchisten, der für das Ideal einer freien und herrschaftslosen Gesellschaft einstand, erregte vor 85 Jahren international großes Aufsehen und lenkte ebenso früh wie folgenlos den Blick auf den Terror der Nazis.

EXIL Furchtbar zugerichtet, zu Tode geprügelt und dann aufgehängt, so beschreibt ein Mithäftling in seinen Erinnerungen den Leichnam des 56-jährigen Dichters. Der Schutzverband Deutscher Schriftsteller rief im französischen Exil zu einer Gedenkfeier auf. Anna Seghers und Egon Erwin Kisch waren unter den Rednern, Proteste deutscher und ausländischer Schriftsteller wurden verlesen. Der Künstler George Grosz setzte dem Dichter mit Aquarellen ein Denkmal.

Erich Mühsam gehörte nicht zufällig zu den frühen Opfern des Hitler-Regimes: Als Mitbegründer der Münchner Räterepublik hat ihn die extreme Rechte als einen »Novemberverbrecher« gebrandmarkt. Seit langem war er als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus bekannt und rief bis zuletzt zum Kampf gegen den Faschismus auf. »Er verkörpert in allem dessen Gegenteil«, schreibt Kurt Kreiler dazu in einer Kurzbiografie.

Er hat die Münchner Räterepublik mitgegründet, die Nazis verspottet, sich allen Autoritäten widersetzt.

Als Kämpfer für die »Unterdrückten, Leidenden, Enterbten« wurde er von seinen Mitstreitern beschrieben, »als der typische fortschrittliche jüdische Intellektuelle«, als »Repräsentant des modernen Kulturmenschen«, als »Feind allen Philistertums« mit Humor von schneidender Schärfe und als Anwalt der Menschlichkeit. »Sich fügen heißt lügen«, lautet eine seiner bekanntesten Gedichtzeilen.

»Anarchie ist die Gesellschaft brüderlicher Menschen, deren Wirtschaftsbund Sozialismus heißt«, hat er seine Ideen einmal kurz zusammengefasst. Und: »Anarchie bedeutet Herrschaftslosigkeit.«

BERLIN Der Auseinandersetzung mit Autoritäten hat sich Erich Mühsam bereits als Schüler verschrieben. Am 6. April 1878 wird er als Sohn eines jüdischen Apothekerehepaares in Berlin geboren, bald darauf zieht die Familie nach Lübeck. Dort wird er 1896 nach Veröffentlichung einer Glosse über den Schuldirektor »wegen sozialistischer Umtriebe« vom humanistischen Gymnasium Katharineum verwiesen. Im mecklenburgischen Parchim setzt er die Schule fort und beginnt wenig später eine Apothekerlehre.

Mit 22 Jahren geht er nach Berlin zurück und wird dort als Redakteur der Zeitschrift »Der arme Teufel« unter Polizeikontrolle gestellt. 1910 klagt man ihn in München wegen »Geheimbündelei« an. Im Ersten Weltkrieg steht Mühsam bald auf Seiten der Pazifisten und wird von der Polizei überwacht. Für seine Beteiligung an der Münchner Räterepublik wird er im Juli 1919 zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, von denen er ein Drittel abbüßen muss.

»Ein sonderbares Volk, das sich immer an der verkehrten Stelle begeistert«, so beschrieb er schon 1910 die Deutschen in seinem Tagebuch. Der Berliner »Verbrecher-Verlag« hat seit 2011 seine Tagebücher der Jahre 1910 bis 1924 veröffentlicht, im Mai ist der 15. und letzte Band erschienen. Sie zeigten den »wachen Blick des Weltveränderers«, schreibt der Verlag. Mühsam beschreibt aber auch seine ständigen Geldnöte und unglücklichen Liebschaften. »Anarchist in Anführungsstrichen« nannte der Schweizer Autor Jan Bachmann seine Graphic Novel über den Dichter, die im vergangenen Jahr herauskam.

Der Dichter Erich Mühsam war ein Freigeist. 1934 ermordeten ihn die Nazis im KZ Oranienburg.

Noch nach der NS-Machtübernahme 1933 verspottet Erich Mühsam Hitler als »Herrn der Heerscharen alias Herrn der Haarscheren«. In der Nacht des Reichstagsbrandes wird er Ende Februar 1933 verhaftet. Es folgen fast 17 Monate lang schwere Misshandlungen in Gefängnissen und Konzentrationslagern.

TRAGÖDIE Die Folterer im KZ Oranienburg forderten Mühsam mehrfach auf, sich selbst zu erhängen. Er hat sich geweigert. Darauf brachte ihn schließlich eine bayerische SS-Einheit um. »Dass ein Mann mit solch glänzenden Qualitäten dem Ungeist des sogenannten Dritten Reiches zum Opfer fallen musste, ist eine der großen Tragödien unserer Zeit«, schrieb sein Freund und politischer Weggefährte Rudolf Rocker.

Beigesetzt wird Mühsam auf dem Waldfriedhof in Berlin-Dahlem, seine Witwe schafft es ins Prager Exil. 1936 wird sie in die Sowjetunion eingeladen, dort verhaftet und muss mit Unterbrechungen fast 20 Jahre in Straf- und Internierungslagern zubringen. 1962 stirbt sie in Ost-Berlin. »Wollt ihr denen Gutes tun, die der Tod getroffen«, hat Erich Mühsam in einem seiner Gedichte über das Ende des Lebens geschrieben, »Menschen, lasst die Toten ruhn und erfüllt ihr Hoffen.«

Kommentar

Erdoğans Vernichtungswahn ist keine bloße Rhetorik

Der türkische Präsident hat nicht nur zur Auslöschung Israels aufgerufen, um von den Protesten gegen ihn abzulenken. Deutschland muss seine Türkeipolitik überdenken

von Eren Güvercin  01.04.2025

Essay

Warum ich stolz auf Israel bin

Das Land ist trotz der Massaker vom 7. Oktober 2023 nicht zusammengebrochen, sondern widerstandsfähig, hoffnungsvoll und vereint geblieben

von Alon David  01.04.2025

USA

Grenell könnte amerikanischer UN-Botschafter werden

Während seiner Zeit in Berlin machte sich Grenell als US-Botschafter wenig Freunde. Nun nennt Präsident Trump seinen Namen mit Blick auf die Vereinten Nationen. Aber es sind noch andere im Rennen

 01.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  01.04.2025

Judenhass

Todesstrafen wegen Mordes an Rabbiner in Emiraten

Ein israelischer Rabbiner wurde in den Vereinigten Arabischen Emiraten getötet. Der Iran wies Vorwürfe zurück, die Täter hätten in seinem Auftrag gehandelt. Drei von ihnen wurden zum Tode verurteilt

von Sara Lemel  31.03.2025

Vereinten Nationen

Zweite Amtszeit für notorische Israelhasserin?

Wird das UN-Mandat von Francesca Albanese um drei Jahre verlängert? Das Auswärtige Amt drückt sich um eine klare Aussage

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Meinung

Marine Le Pen: Zu Recht nicht mehr wählbar

Der Ausschluss der Rechtspopulistin von den Wahlen ist folgerichtig und keineswegs politisch motiviert

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Essay

Dekolonisiert die Dekolonialisierung!

Warum die postkoloniale Theorie jüdische Perspektiven anerkennen muss

von Lisa Bortels  31.03.2025

Türkei

Erdoğan: »Möge Allah das zionistische Israel zerstören«

Ein antisemitisches Statement von Präsident Recep Tayyip Erdoğan löst einen Streit mit dem jüdischen Staat aus

 31.03.2025