Am Nachmittag des 27. Januar 1945 erreichte die 322. Gewehr-Division der Roten Armee Auschwitz. In diesem Moment begann die Befreiung. Nun, genau 78 Jahre später, wird am Internationalen Holocaust-Gedenktag mit zahlreichen Veranstaltungen an die Opfer des NS-Regimes erinnert.
Der Bundestag will am Freitag während seiner zentralen Gedenkstunde erstmals auch an queere NS-Opfer erinnern. Die Veranstaltung beginnt um 10 Uhr. Queer ist ein Sammelbegriff für nicht-heterosexuelle Menschen, etwa für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Personen (LGBT).
Identität Als Erste soll die Holocaust-Überlebende Rozette Kats sprechen. Sie wurde 1942 in einer jüdischen Familie geboren und überlebte die NS-Diktatur in Amsterdam bei einem nichtjüdischen Ehepaar, das sie als eigenes Kind ausgab. Ihre leiblichen Eltern und ihr Bruder, der noch ein Säugling war, wurden in Auschwitz ermordet. Erst Ende der 40er-Jahre erfuhr Kats davon und näherte sich später allmählich ihrer jüdischen Identität.
Der Berliner Schauspieler Jannik Schümann trägt anschließend bei der Gedenkstunde im Bundestag einen Text über Karl Gorath vor, der als schwuler Mann die nationalsozialistische Gewaltherrschaft überlebte. Zunächst kam Gorath ins Gefängnis, dann in verschiedene Konzentrationslager. Er überlebte Auschwitz, wurde jedoch auch nach dem Ende der NS-Herrschaft weiter strafrechtlich verfolgt. Im Jahr 1947 verurteilte ihn derselbe Richter, der ihn bereits 1938 bestraft hatte. Als Vorbestrafter fand Gorath nur schwer Arbeit und verarmte. Er starb 2003 im Alter von 91 Jahren in Bremerhaven.
Ravensbrück Die Schauspielerin Maren Kroymann trägt am Freitag im Bundestag die Biografie der lesbischen Jüdin Mary Pünjer vor. Sie wurde im Konzentrationslager Ravensbrück interniert und später in der »Euthanasie«-Anstalt Bernburg an der Saale ermordet.
Bei der Gedenkstunde wird auch Klaus Schirdewahn (75) sprechen. Der Mannheimer wurde in den 60er-Jahren wegen seiner Sexualität verhaftet und koordiniert heute die schwule Seniorengruppe »Gay & Grey«. In seiner Rede soll es um die Bedeutung des Gedenkens an die im Nationalsozialismus verfolgten sexuellen Minderheiten gehen.
Jugendbegegnung Die Sängerin Georgette Dee und der Pianist Tobias Bartholmeß sorgen für die musikalische Begleitung der Gedenkstunde, an der auch Vertreter der anderen Verfassungsorgane teilnehmen sowie junge Menschen, die sich an der diesjährigen Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages beteiligen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird ebenfalls zu den Teilnehmern gehören.
Nach der Gedenkstunde treffen die Teilnehmer der Jugendbegegnung Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Rozette Kats und Klaus Schirdewahn zu einer Podiumsdiskussion. Diese wird am Freitag ab 12 Uhr live übertragen.
»Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das Erbe der Zeitzeugen der Schoa in Ehren zu halten und nicht zu vergessen, was ihnen widerfahren ist«
Zentralratspräsident Josef Schuster
Zeitzeugen Der Zentralrat der Juden in Deutschland rief derweil zu Gesprächen mit Zeitzeugen auf. Die Möglichkeit der Begegnungen mit ihnen sei begrenzt, erklärte Präsident Josef Schuster. »Sie verlassen unsere Welt, und mit ihnen verlassen uns ihre Schilderungen, Einsichten und Gefühle aus erster Hand.«
Gerade vor dem Hintergrund dessen, dass ein Teil der deutschen Gesellschaft »gerne einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen möchte«, sei dies bedenklich. »Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das Erbe der Zeitzeugen der Schoa in Ehren zu halten und nicht zu vergessen, was ihnen widerfahren ist«, betonte Schuster.
Jungoffiziere Die jährliche #WeRemember-Initiative des Jüdischen Weltkongresses (WJC) läuft bereits und wird am 27. Januar abgeschlossen. Ihr Schwerpunkt liegt in diesem Jahr auf der Begegnung mit Zeitzeugen. Der Zentralrat unterstützt den WJC bei den Gesprächen, an denen Schüler, junge Offiziere sowie angehende Diplomaten und Polizisten beteiligt sind.
Der WJC startete die #WeRemember-Initiative im Jahr 2017. Teilnehmer in aller Welt fotografieren und filmen sich mit Schildern mit der Aufschrift »#WeRemember«, um die Aufnahmen dann in sozialen Medien mit dem entsprechenden Hashtag zu veröffentlichen.
FussballVEREINE Am Dienstag beteiligten sich an der Aktion auch zwei Bundesliga-Vereine. Beim Heimspiel des FC Bayern gegen den 1. FC Köln erinnerten die beiden Klubs an die sechs Millionen ermordeten Juden, indem die Spieler ein großes »#WeRemember«-Schild in die Kameras hielten.
Der neue Botschafter Israels in der Bundesrepublik, Ron Prosor, hielt zusammen mit Fredi Bobic, Thomas E. Herrich und Kay Bernstein von Hertha BSC im Berliner Olympiastadion ein ebensolches Schild hoch. Sein Kommentar auf Twitter: »Die Olympischen Spiele der Nazis 1936 waren ein Wendepunkt, und die Welt war Zeuge. Ich bin stolz, heute als Vertreter des jüdischen Staates im selben Stadion zu stehen, damit die Welt sich erinnert & bezeugt: #WeRemember.«
Diskriminierung Sowohl in der 1. als auch in der 2. Bundesliga nehmen Fußballvereine auch an der Initiative »Nie Wieder!« teil. In diesem Rahmen wird der Opfer des Holocaust ebenfalls gedacht. Die Beteiligten wenden sich gegen jeden Antisemitismus und jegliche Form der Diskriminierung.
Schon am Donnerstagnachmittag werden am Berliner Holocaust-Mahnmal Kerzen für die NS-Opfer entzündet. Zugleich soll hier an den wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft erinnert werden. Dazu aufgerufen haben mehrere Organisationen, darunter die Amadeu Antonio Stiftung, das Anne-Frank-Zentrum und der Bundesverband der Recherche- und Dokumentationszentren (RIAS).
Kränze Gemeinsam wollen die Beauftragten der Bundesregierung für das jüdische Leben und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland, Felix Klein und Mehmet Daimagüler, der Opfer des NS-Regimes gedenken. Sie wollen dazu am Freitag zusammen mit Jugendlichen in Berlin Kränze an den Denkmälern der beiden Opfergruppen niederlegen, kündigte das Bundesinnenministerium an.
Daimagüler erklärte, das gemeinsame Gedenken sei ein Zeichen der Solidarität und wolle auch die heutige Gesellschaft hinterfragen: »Wir dürfen nicht den Fehler machen, die Toten zu ehren, aber Diskriminierung und Ausgrenzung der Lebenden zu tolerieren.« Hier sei die Stimme der jungen Generationen von jüdischen Menschen und Sinti und Roma von großer Bedeutung.
Miteinander Dass Juden sowie Sinti und Roma wieder in Deutschland leben wollten, sei ein großes Zeichen des Vertrauens, sagte Klein. »Den Betroffenen zuzuhören, ist die Grundlage unseres Miteinanders auch in der Zukunft.«
Der brandenburgische Landtag und die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen erinnern ebenfalls gemeinsam an die Opfer des Nationalsozialismus. Anstelle der traditionellen Kranzniederlegung sei bei der Veranstaltung am Freitag in Oranienburg ein alternatives Ritual mit einer kollektiven «Tape-Art-Gedenkinstallation» geplant, teilte der Landtag in Potsdam mit.
Dabei sollen den Angaben zufolge auf Klebeband geschriebene Antworten auf die Frage «Warum erinnerst du heute?» verwendet werden. Beiträge könnten vor Ort gestaltet, aber auch vorab an die Gedenkstätte übermittelt werden, hieß es.
Bei der Gedenkveranstaltung wird Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) zu einem Grußwort erwartet, hieß es weiter. Anschließend sollen Beiträge aus dem Projekt «Voices of the Next Generations», in dem Nachkommen von Häftlingen des KZ Sachsenhausen aus ganz Europa zusammenarbeiten, sowie von Schülerinnen und Schülern vorgestellt werden. Darunter seien künstlerische Filmanimationen, Musik und persönliche Geschichten. ppe/im/dpa/epd