Ein Wort hätte genügt. Als Geste des Bedauerns für das zugefügte Unrecht im Namen des Berliner Zoos, als Bekenntnis zu Verantwortung, als Symbol der Anerkennung. Doch bei der Stolpersteinverlegung für Hilde Singer am 19. Mai in Berlin-Wilmersdorf blieb die Geste aus. Statt über die jüdischen Zoo-Aktionäre zu sprechen, deren Tochter und Nichte Hilde Singer war, beschränkte sich Andreas Knierim, Direktor des Berliner Zoologischen Gartens, in seiner Stolperstein-Rede auf Hilde Singers Zoo-Leidenschaft und den Zoo als Berliner Attraktion.
»Die jüdischen Aktionäre des Zoologischen Gartens zu Berlin« – dass das Thema brisant ist, hätte der neue Zoochef spätestens seit Erscheinen des gleichnamigen Buches der Historikerin Monika Schmidt Anfang 2015 wissen müssen. Immerhin hatte der Tierpark das Buch mitfinanziert. Es basierte auf einer Studie, die Knierims Vorgänger Frädrich 2001 in Auftrag gegeben hatte.
Außerdem dürfte Knierims Mitarbeitern das »heiße Eisen« der jüdischen Zooaktien bekannt gewesen sein: Schließlich hatte der Zoo erste Ansätze zur ohnehin verschleppten Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit gezeigt: darunter neben besagter Studie eine Gedenktafel für die jüdischen Aktionäre, die die damalige Zoo-AG-Chefin Gabriele Thöne 2011 am Antilopenhaus anbringen ließ. Seither passierte nichts mehr, trotz wiederholter Ankündigungen.
Ausgrenzung Seit gut einem Jahr ist Andreas Knierim Direktor von Deutschlands ältestem Zoo, einer der beliebtesten Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt, eine Aktiengesellschaft mit regelmäßigen Zuschüssen vom Land Berlin, ein Vorzeigeprojekt, das jährlich mehr als drei Millionen Besucher anzieht. Doch aller Glanz täuscht nicht darüber hinweg, dass zur Zoogeschichte auch die Nazi-Zeit gehört: als die Zooleitung ihre jüdischen Aufsichtsratsmitglieder und Sponsoren ausgrenzte und die jüdischen Aktionäre zwang, ihre Aktien unter Wert an den Zoo zu verkaufen.
Als Knierim sein neues Amt übernahm, war das »kein vordergründiges Thema«, über das seine Vorgänger ihn »in Kenntnis gesetzt« hätten, gesteht der 49-Jährige. So wurde er bei der Stolpersteinverlegung für Hilde Singer von dem Thema überrascht. Er versuche, »allen Seiten gerecht zu werden«, auch dem Aufsichtsrat, und sehe sich nun »genötigt, zügig Stellung zu beziehen«.
Hilde Singer war ein »Zookind«. Sie wurde 1911 in Berlin geboren und starb 2014 im Alter von 102 Jahren in New York. Ihre Kindheitserinnerungen kreisen zwischen den Freigehegen, Musikpavillons und Caféterrassen des Berliner Zoos, denn sowohl ihre Mutter Alice als auch ihre Tanten Grete und Erna besaßen Zoo-Aktien – so wie 1500 Berliner Juden in den 20er- und 30er-Jahren. Dadurch hatten bis zu 20 Familienmitglieder lebenslang freien Eintritt in den Zoo, der damals als Mittelpunkt des Berliner Gesellschaftslebens galt.
Aktien Die Aktien wurden innerhalb der Familien weitervererbt. Damals wie heute gehörte der Besitz einer Zoo-Aktie zum »guten Ton«. Mit großem Engagement gestalteten die 1500 jüdischen Aktionäre, immerhin fast ein Drittel aller 4000 Zoo-Aktionäre, diesen Ort des bürgerlichen Großstadtmilieus mit.
Mit der Machtübernahme der Nazis trieb der Zoo offen die »Entjudung« voran – aktiv, systematisch und aus freien Stücken. Zu diesem Schluss kommt Antisemitismusforscherin Monika Schmidt, die die Spuren der Zoo-Aktien akribisch zurückverfolgt und erhalten gebliebene Zoo-Dokumente durchforstet hat.
Zoo-Aktie Nr. 1415 gehörte Alice Tradelius, Hilde Singers Mutter. Sie war vom 3. Februar 1926 bis zum 2. März 1933 in ihrem Besitz, bevor sie diese an ihre Schwägerin Grete Tradelius übertrug. Monika Schmidts Recherchen ergaben, dass Grete Tradelius vermutlich diese und eine weitere Zoo-Aktie, Nr. 3019, am 12. Dezember 1938 verkaufte – in einem Moment höchster Not. Ihre Schwägerin Alice hatte sich im November das Leben genommen, Grete und ihre Familie bereiteten die Flucht nach Belgien vor.
Arisierung Nur einen Tag später, am 13. Dezember 1938, wurde in der Zoo-Aktie Nr. 3019 ein neuer, »arischer«, Besitzer eingetragen. Ab 1938 hatte der Zoo Berlin mit der »Arisierung« der Zoo-Aktien begonnen: Jüdische Aktionäre durften ihre Aktien nicht mehr weitervererben oder selbst veräußern, sondern nur noch direkt an den Zoo verkaufen – weit unter Wert. Der Zoo verkaufte die Wertpapiere anschließend zu einem höheren Preis an »Arier« weiter und erzielte damit beträchtliche Gewinne. Ab 1938 durften Juden den Berliner Zoo zudem nicht mehr besuchen. Grete Tradelius und ihre Familie wurden 1942 in Auschwitz ermordet.
»Wir haben die Geschichte aufgearbeitet«, verteidigt Knierim die heutige Haltung des Zoos. Die Studie, die Gedenktafel, das Buch. 15 Jahre sind eine lange Zeit. Für hochbetagte Zeitzeugen und Schoa-Überlebende, vor allem aber für die Öffentlichkeit und den Zoo selbst.
Dass es auch anders geht, machten deutsche Unternehmen wie Daimler und Deutsche Bank bereits Anfang der 80er-Jahre vor: Sie öffneten ihre Firmenarchive, gaben Studien in Auftrag und initiierten ab 1998 die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« mit, die mehr als fünf Millionen D-Mark von 6500 Unternehmen einwarb.
Verantwortung »Die Zeit des Nationalsozialismus und die Rolle unseres Unternehmens wird in der Ausstellung in unserem Mercedes-Benz Museum ebenso dargestellt wie in unseren Publikationen anlässlich unseres 125-jährigen Jubiläums 2011«, sagt Ute Wüest von Vellberg von der Daimler-Abteilung Integrität und Recht. Von einer Aufarbeitung wie dieser ist der Berliner Zoo weit entfernt. Dabei hatte er spätestens seit dem Jahr 2000 Gelegenheit dazu, seine Verstrickung bei der Enteignung von Juden aufzuarbeiten, als Werner Cohn aus New York anfragte: »Was ist eigentlich aus der Zoo-Aktie meines Vaters geworden?«
In einer ersten Reaktion wies der Zoo das Anliegen schroff zurück; bis heute erhielt Werner Cohn weder ein Wort des Dankes für seine Anregung noch eine Einladung nach Berlin. Hätte nicht er mit seinen Briefen die Vergangenheit aufgerollt, läge sie womöglich noch immer im Dunkeln. »Anachronistisch« nennt er das Verhalten des Berliner Zoos. Es entspreche 70 Jahre nach Ende des Krieges und der Schoa so gar nicht der Realität und dem historischen Verantwortungssinn deutscher Unternehmen.
Der heute 89-Jährige war zwölf Jahre alt, als seine Familie Deutschland verlassen musste. Bis heute erinnert er sich an den Spielplatz im Zoo, den Seelöwen Roland und das Lieblingsfrühstückscafé seiner Eltern. Im Oktober 1938 emigrierte die Familie in die USA. Zu diesem Zeitpunkt durfte Werners Vater James bereits nicht mehr als Arzt praktizieren. Seine Zoo-Aktie Nr. 1114, die er 1928 erworben hatte, wechselte 1938 den Besitzer. 1940 nahm sich James Cohn im Alter von 53 Jahren in New York das Leben.
Zookinder Wegen der Zoo-Aktie seines Vaters fragte Werner Cohn erstmals in den 60er-Jahren beim Berliner Zoo nach, dann erst wieder 40 Jahre später. Er suchte weitere jüdische »Zookinder« und Aktionäre und fand sie in Israel, Großbritannien und den USA. Durch seine Initiative kam die Nazi-Vergangenheit des Zoos ans Licht. Werner Cohn bezeichnet sich heute als das »letzte lebende Zookind«, als Zeitzeugen, der noch von den Zoo-Aktien seiner Eltern und Verwandten wusste.
Doch dieses »Wissen über Unrecht« gehe verloren, warnt Roland Bittner. »Wenn man lange genug wartet, dann sterben die einstigen Eigentümer von Gemälden, Beutekunst – oder eben Zoo-Aktien.« Auch er ist heute einer von 4000 Zoo-Aktionären. Seine Aktie mit der Nr. 728 kaufte er 2002. Mittlerweile hat sich ihr Kaufwert verdoppelt, von knapp 2000 auf 4000 Euro – Liebhaberstück und Wertanlage zugleich. Dass er sie zu Hause im Bücherregal statt in einem Banktresor aufbewahrt, ist eher unüblich. Doch seit er Monika Schmidts Buch gelesen hat, ist sich Bittner nicht mehr so sicher, ob er seine Aktie überhaupt behalten will.
»Ein echter Berliner hat eine Zoo-Aktie«, sagt der Arzt. »Doch woher weiß ich, dass an meiner Aktie kein Blut klebt?« Behutsam faltet er das vergilbte Stück Papier auseinander: Die erste Eintragung stammt von 1955. Roland Bittner will Gewissheit. Bei aller Sentimentalität – er und seine Frau haben im Zoo geheiratet – will Bittner nachforschen, wem die Aktie vor 1938 gehörte. Stellt sich heraus, dass sie einen jüdischen Eigentümer hatte, will er sie abgeben. Sich öffentlich zu seiner Verantwortung zu bekennen, sei »das Mindeste«, was der Zoo tun könne, findet Roland Bittner.
anerkennung Werner Cohn geht diese Forderung nicht weit genug. Da das Land Berlin die Zoologischer Garten AG mitfinanziert und ihr das Grundstück im Herzen der Stadt zur Nutzung überlässt, sei neben dem Zoo-Aufsichtsrat vor allem die Politik gefragt. »Eine deutliche Geste mit finanzieller Dimension«, zum Beispiel für einen Zoo in Israel, hält Werner Cohn für angemessen. Es gehe nicht um »individuelle Wiedergutmachung«, sagt Cohn, sondern um Anerkennung von Verantwortung.
»Ich sehe den Fokus jetzt«, sagt Zoodirektor Knierim nachdenklich. Er sei sich »der Situation bewusst« und könne und wolle »die Sensibilität aufbringen«. Anteil daran hat auch der Berliner SPD-Politiker Raed Saleh. Der SPD-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus, der sich seit Langem für interreligiösen Dialog einsetzt, betont, dass Berlin »Vorbild sein könne für andere Städte in Europa«.
»Jüdisches Leben kehrt zurück nach Berlin. Gibt es ein schöneres Kompliment für unsere weltoffene Stadt?« So habe er dem Zoodirektor vor etwa zwei Monaten nahegelegt, »ein klares Zeichen zu setzen – als Geste der Wertschätzung und des Eingeständnisses von Unrecht«. Er habe ihm empfohlen, zur Stolpersteinverlegung zu gehen und die Angehörigen zu treffen. All das hat Andreas Knierim erfüllt – Zeichen hat er damit bislang nicht gesetzt.
Lesen Sie dazu auch unser Interview mit Raed Saleh. Er fordert: »Der Zoo kann mehr tun«
www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/22392