Kaum ist der eine Termin zu Ende, sitzt an diesem Freitagnachmittag Derviş Hizarcı wieder im Besprechungsraum der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). Seit rund zehn Jahren ist er ehrenamtlich Vorsitzender des Vereins. In dieser Zeit wuchs die KIgA zu einer bundesweit und international angesehenen Organisation, die unter anderem ein Europäisches Netzwerk aufgebaut hat und eng mit Institutionen wie dem US Holocaust Memorial Museum in Washington zusammenarbeitet.
Derviş Hizarcı sieht erschöpft aus. Kein Wunder – die vergangene Zeit war aufregend, aufreibend und sehr arbeitsintensiv. Privat, weil er im Frühjahr zum dritten Mal Vater geworden ist, und beruflich, weil seit dem 7. Oktober 2023 vieles nicht mehr so ist, wie es zuvor war. Die Nachfrage nach dem, wofür er persönlich und die KIgA stehen, wofür sich Hizarcı einsetzt, ist enorm angestiegen: Beratungen und Schulungen zum Umgang mit Antisemitismus und dem Nahostkonflikt.
Sein Kalender ist seit Monaten proppenvoll mit beruflichen und privaten Terminen. Die beiden Kinder aus erster Ehe leben bei der Mutter, sie kommen am Wochenende zu ihm, er sieht seinen neunjährigen Sohn und seine 14-jährige Tochter aber auch während der Woche regelmäßig, holt sie vom Ringen oder Schlagzeugunterricht ab und geht mit ihnen Sushi essen, einkaufen oder den an Demenz erkrankten Großvater besuchen.
Die Arbeit mit Jugendlichen und die Schulung von Lehrkräften und Multiplikatoren ist das »Kerngeschäft« der KIgA
Zu den beruflichen Terminen gehören Strategiegespräche mit Ministern und Senatoren, Abgeordneten und hohen Beamten zu Antisemitismus, Rassismus und islamistischem Extremismus sowie Termine mit Schulleitungen. Die Arbeit mit Jugendlichen und die Schulung von Lehrkräften und Multiplikatoren ist das »Kerngeschäft« der KIgA. Nach den Massakern der Terrororganisation Hamas im Oktober 2023 sind die Medienanfragen um ein Vielfaches angestiegen. »Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Interviews ich gegeben habe«, sagt Hizarcı.
Das Treffen in den Räumen der KIgA, einem Loft im dritten Stock eines Hinterhauses, war eigentlich für den Vormittag geplant. Hizarcı ist der Bitte nachgekommen, den Termin auf den Mittag zu verlegen, dafür hat er einen privaten Termin verschoben. Das wäre nicht erwähnenswert, würde es nicht eine seiner Eigenschaften beschreiben: Derviş Hizarcı ist ein Mensch, der versucht, alles unter »einen Hut zu bringen« – und das keineswegs um den persönlichen Profit, sondern um der Sache willen.
Derviş Hizarcı ist ein mittelgroßer Mann mit dunklem, nach hinten gekämmtem Haar, Dreitagebart, schwarzem Pulli, schwarzer Chinohose und weißen Turnschuhen. Er sieht nicht aus wie ein Mann, den man auf dem ersten Blick als Muslim identifizieren würde. Wie einen doch die Vorurteile in die Irre führen können! Denn Derviş Hizarcı ist Muslim, »bemüht praktizierend«, wie er sagt, ein Mann, der seinen Glauben lebt, aber keiner von denen, die ihr Bekenntnis zum Islam demonstrativ nach außen kehren.
Erltern lehrten ihn, demütig und nicht überheblich zu sein, barmherzig und großmütig, nicht herablassend und ungerecht
Der Sohn von Eltern, die aus der anatolischen Provinz Yozgat stammen, ist geprägt worden von deren Frömmigkeit und Bescheidenheit. Was seine Mutter und sein Vater ihm vor allem vermittelt haben: demütig und nicht überheblich zu sein, barmherzig und großmütig, nicht herablassend und ungerecht. Und vor allem: dass ein frommer Muslim nicht aus Pflichtgefühl Regeln befolgt und sein Muslimsein zur Schau stellt. Hizarcı lebt die Werte seiner Religion, macht aber auch kein Geheimnis daraus, dass er gelegentlich, wenn es sich ergibt, auch einmal Wein trinkt.
Vorurteile und all ihre Auswirkungen sind das Lebensthema von Hizarcı. Der in Berlin geborene und in Neukölln aufgewachsene 41-Jährige war schon als Kind Leidtragender von Ausgrenzung und Abwertung. Zwar erlebt er es noch immer, dass Menschen ihm gegenüber voreingenommen sind, aber inzwischen kann er damit ganz anders umgehen als früher. Wie ihn andere bewerten und was sie in ihm sehen, habe mehr mit denen zu tun, die über ihn urteilen, als mit ihm. »Diese Erkenntnis ist auch ein Ergebnis der Selbstreflexion während des Studiums sowie eine Folge von glücklichen Zufällen. Und sicherlich spielt auch das Alter eine Rolle«, sagt Derviş Hizarcı.
Ohnmacht aufgrund von Abwertungen und Diskriminierungen
Auf 9/11, den 11. September 2001, und dessen Folgen, vor allem auch auf seine persönliche Entwicklung führt er es zurück, dass er als junger Mensch begann, sich gegen Antisemitismus zu engagieren. In Neukölln sei er umgeben gewesen von seinesgleichen, sagt er. »Bis zu den Terroranschlägen von Al-Qaida waren wir ›Türken‹, danach wurden wir zu Muslimen erklärt und permanent mit Gräueltaten von ›Muslimen‹ konfrontiert, auch in der Schule von Lehrkräften«, so Hizarcı. Sein soziales Umfeld, seine Freunde und Bekannten, sie alle hätten sich als Muslime aufgrund der Abwertungen und Diskriminierungen »ohnmächtig« gefühlt. »Antisemitismus war für uns die Antwort auf Ohnmacht«, resümiert er rückwirkend. »Die Juden, die die Geschicke der Welt lenken: Das war die Erklärung für alles.«
Was im Kopf eines Jugendlichen vorgeht, der umgeben ist von Menschen, die solche Sätze von sich geben und an eine jüdische Weltverschwörung glauben, das weiß Hizarcı: »Diese Einstellung färbt ab.« Ein »Vollblut-Antisemit« sei er zwar nicht gewesen, habe aber durchaus antisemitische Einstellungen gehabt. »Gott sei Dank hat diese Phase nicht lange gedauert«, sagt er mit hörbarer Erleichterung in der Stimme.
Rückblickend ist ihm seine »Gesinnung« von damals immer noch unangenehm. Im Gegensatz zu manchem seiner Freunde aus der Jugend habe er aber schnell erkannt, dass er antisemitischen Narrativen aufgesessen war. Während des Studiums in Magdeburg begann er, seine Religion aktiv zu praktizieren − mit fünfmaligem Gebet jeden Tag und allem, was dazugehört. »Menschenhass gehörte nicht dazu, so begann ich, mich aktiv mit Antisemitismus auseinanderzusetzen«, berichtet Hizarcı.
Hizarcı weiß um die sozialen Dynamiken,
die den Hass befeuern.
Geholfen habe ihm dabei neben der Lektüre die Bekanntschaft mit Menschen, die mit ihm über Antisemitismus sprachen, auf Augenhöhe, ohne ihn zu belehren. Das und anderes trug dazu bei, dass aus dem »Türkenjungen« ein Berliner wurde, dem Aufklären über Antisemitismus zur Berufung wurde.
Hızarcıs berufliche Laufbahn hat viele Stationen. Unter anderem arbeitete er mehr als sieben Jahre im Berliner Jüdischen Museum. Zunächst als Guide, später in der Bildungsabteilung.
Langsamkeit der Mühlen der Bürokratie
Nach dem Abschluss seines Studiums machte er sein 2. Staatsexamen und wurde Lehrer an einer Kreuzberger Gesamtschule. Seinen Beruf gab er nach nicht allzu langer Zeit auf, da ihn die damalige Bildungssenatorin als ihren Antidiskriminierungsbeauftragten haben wollte. So wechselte er in den Senat für Bildung, Jugend und Familie.
Enttäuscht darüber, dass die Mühlen der Bürokratie so langsam mahlen, wechselte er nach 13 Monaten zur Alfred Landecker Foundation, wo er von September 2020 bis Februar 2022 Programmdirektor im Bereich Demokratieförderung, Minderheitenschutz und Antisemitismusbekämpfung war.
Als Bildungsexperte, dem der jüdisch-muslimische Dialog am Herzen liegt, entwickelte er viele Projekte und setzte sie um. Hauptberuflich ist er seit zwei Jahren Geschäftsführer bei den »ToleranzRäumen«. Neben der erfolgreichen Pop-up-Ausstellung − sie wurde bereits in mehr als 50 Städten gezeigt − geht es um Fragen der Toleranz, und es wurde ein neues Escape-Room-Brettspiel »RätselRäume« entwickelt. Demnächst erscheint auch ein digitales Spiel.
Ein Mensch, der authentisch, aufrichtig und glaubwürdig ist
Da Hizarcı in seiner Jugend selbst vom Narrativ einer jüdischen Weltverschwörung angezogen war, kennt er die Wirkmacht von Antisemitismus und weiß um die Muster und die sozialen Dynamiken, die den Hass befeuern. Diese Erfahrung und seine persönliche Entwicklung helfen ihm bei seinem Engagement, das nicht allein darin besteht, Wissen über Antisemitismus zu vermitteln. Wer ihn kennenlernt, der spürt recht bald: Da steht ein Mensch vor einem, der authentisch, aufrichtig und glaubwürdig ist. Und wer ihn genauer kennt, der weiß: Der Derviş ist kein Selbstdarsteller, der sich gerne reden hört und der – wie manch andere aus der Branche – um der medialen Aufmerksamkeit willen »klappert«. Nein, vor einem sitzt einer, der nicht davon spricht, was für tolle Sachen er angeleiert und was er so alles bewirkt hat, sondern ein nachdenklicher, besorgter Mensch, der die Hindernisse benennt, die es zu überwinden gilt, damit antisemitismuskritische politische Bildung wirkt.
Mal eine Doppelstunde lang über Antisemitismus sprechen: Davon dürfe man keinen Sinneswandel bei Schülerinnen und Schülern erwarten, sagt er. Das Tagebuch der Anne Frank als Lektüre oder der Besuch einer Gedenkstätte – auch das passe nicht in jede Situation als Reaktion auf Antisemitismus. »Aber man kann lernen, Antisemitismus zu erkennen«, erklärt Hizarcı. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen brauche Zeit, man müsse zunächst eine Beziehung aufbauen, das sei das A und O und für ihn der Ausgangspunkt für richtige Pädagogik. Daher seien langfristig angelegte Projekte erforderlich, in denen jungen Menschen zunächst der Raum gegeben werde, einfach loszureden, sich mitzuteilen und dabei auch falsches Wissen zu äußern, ohne deswegen gleich disqualifiziert zu werden.
Wenn Hizarcı Deutsch spricht, dann redet er sehr langsam und wirkt dabei sehr nachdenklich. Es mag einen verwundern, dass ein Profi wie er so um Worte ringt. Was es mit dem Tempo auf sich hat, lässt sich nachlesen in seinem Buch Zwischen Hass und Haltung. Was wir als Migrationsgesellschaft lernen müssen, das Mitte Oktober im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Darin beschreibt er unter anderem Szenen aus seiner Schulzeit und wie seine Lehrerin ihn ermahnte, »sauberes Deutsch« zu sprechen. Sie habe ihn so sehr eingeschüchtert, dass er erst recht »keinen geraden Satz« habe formulieren können. »Diese Scham, diese Angst, Fehler zu machen und – mal wieder – bloßgestellt zu werden, wirken bis heute nach.«
Manche Muslime beschimpfen ihn
als »Haustürken« und Israelfreund.
Seit einigen Jahren sitzt Derviş Hizarcı im Beratungskreis des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung und im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx). Zudem ist er Mitglied der deutschen IHRA-Delegation.
Weg zum gleichberechtigten Leben und Frieden: Austausch und Dialog
Wäre Hizarcı nicht davon überzeugt, dass Austausch und Dialog, auch kontrovers geführt, der einzige Weg zum gleichberechtigten Leben und Frieden ist, dann würde er die Energie für all die ehrenamtlichen Positionen wohl nicht aufbringen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat er gelernt, mit Rückschlägen, mangelnder Wertschätzung und Angriffen umzugehen und sich nicht entmutigen zu lassen.
Da ihm seine Eltern vermittelten, bescheiden zu sein, machte er kein großes Tamtam daraus, als er Anfang Oktober für sein Engagement mit dem Verdienstorden des Landes Berlin ausgezeichnet wurde. Doch seine leuchtenden Augen verraten die Freude über die Wertschätzung. Bereits drei Jahre zuvor hatte er von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz erhalten.
Ein Muslim, der sich privat und beruflich für Juden engagiert und sich dem Sensibilisieren für Antisemitismus verschrieben hat, dafür gibt es nicht nur Lob und Preise. Einige muslimische Communitys und Akteure, die sich selbst als Muslime labeln, doch den Glauben nicht verinnerlicht haben, kritisieren ihn. Anders kann sich Hizarcı nicht erklären, dass er immer wieder als »Haustürke« und Israelfreund beschimpft wird und man ihm unterstellt, er würde sich bei Juden anbiedern.
Doch von Angriffen und Drohungen lässt er sich nicht beeindrucken. »Ich weiß, wer ich bin und was ich tue. Ich mache weiter.«