Herr Conrad, wie bewerten Sie die bisher erreichte Freilassung von 110 der von der Hamas verschleppten Geiseln?
Das war im Großen und Ganzen der Verlauf, den man sich in dieser Phase erhoffen konnte. Natürlich gab es bei der Umsetzung des Abkommens hie und da Irritationen, aber so etwas ist normal. Jetzt werden die Dinge erst richtig schwierig. Und es sind noch mehr als die Hälfte der Geiseln in der Gewalt der Hamas.
Wer hat sich Ihrer Meinung nach eher durchgesetzt, Israel oder die Hamas?
Verglichen mit früheren Fällen war dieser Deal nicht grob ungleichgewichtig. Der Schlüssel, also drei palästinensische Sicherheitshäftlinge gegen eine Geisel in der Gewalt der Hamas, war für Israel hinnehmbar.
Die Kampfhandlungen haben wieder begonnen. Erschwert das die Geisel-Verhandlungen, oder ist der Druck auf die Hamas hilfreich?
Wir hatten es von Anfang an mit zwei konkurrierenden israelischen Prioritäten zu tun: die Befreiung der Geiseln einerseits und die Vertreibung der Hamas aus Gaza sowie die Zerstörung ihrer Infrastruktur andererseits. Jetzt steht wieder das zweite Ziel im Vordergrund, und das nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass mögliche weitere Verhandlungen zur Geiselbefreiung von Hamas auch zur eigenen Existenzsicherung und zur Aufwertung als Verhandlungspartner genutzt werden würden. Neue Gespräche zum Schicksal der Geiseln scheinen erst wieder nach Einstellung der Kampfhandlungen in Betracht zu kommen.
Wie laufen die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas ab?
Die Kommunikationswege sind unter den Bedingungen und der laufenden Militäroperation Israels in Gaza natürlich kompliziert. Offenbar verlaufen sie in erster Linie via Katar, wo die politische Führung der Hamas sitzt, und über Kairo. Die Ägypter sind in jüngster Zeit wohl nicht zufällig gerade von allen über den grünen Klee gelobt worden. Ob das nur geschieht, um sie bei Laune zu halten, kann ich nicht beurteilen. Aber es deutet darauf hin, dass sie tatsächlich eine wichtige Rolle einnehmen, allein schon aufgrund ihrer geografischen Schlüsselposition an der Südgrenze des Gazastreifens und ihrer jahrzehntelangen militärischen und geheimdienstlichen Kontakte zu den meisten der dort aktiven Kräfte. Auch die Amerikaner nehmen Einfluss, sowohl auf Katar als auch auf Israel und, wo nötig, auch auf Ägypten.
Bislang wurden pro Geisel drei in Israel inhaftierte Palästinenser freigelassen. Wird die Hamas versuchen, den Preis hochzutreiben?
Sie wird das sicher versuchen, besonders mit Blick auf die israelischen Soldaten in ihrer Gewalt. Für deren Herausgabe wird man bestimmt die Freilassung von möglichst vielen verurteilten Schwerverbrechern verlangen.
Woher kommt diese Ungleichgewichtung von Menschenleben?
Das sind, platt gesagt, die Gesetze des Marktes. Je lauter die Forderungen nach Freilassung der Geiseln werden, desto mehr steigt in den Augen der Hamas ihr Wert. Wenn Sie einem Verkäufer auf dem Basar sagen, »Oh, dieser Teppich ist aber schön«, verdoppelt der im Kopf schon mal den Preis. Diese Basarpsychologie gilt letztlich für alle Verhandlungssituationen. Hinzu kommt: Für Israel steht die Rückkehr der eigenen Bürger traditionell an oberster Stelle, während die Terroristen der Hamas die Haft in Israel als Teil ihres »Widerstands« ansehen, für den Opfer zu erbringen sind.
Welche Interessen verfolgen die Vermittler?
Deren Interesse ist es zunächst einmal, einen Deal zustande zu bringen, dem beide Kriegsparteien zustimmen können. Und Ägypten hat ein massives Interesse daran, nicht ein Pulverfass Gaza vor der Haustüre zu haben. Präsident Al-Sisi ist ja kein Freund der Hamas. Ihm wäre es sicher lieber, würde in Gaza die Palästinensische Autonomiebehörde oder eine andere ihm genehme Struktur die Regentschaft übernehmen, das Gebiet konsolidieren, befrieden und zu wirtschaftlicher Prosperität führen.
Und Katar? Hat sich der Golfstaat nicht an die Hamas gekettet?
Die sind nicht miteinander verheiratet, auch wenn es Affinitäten auf der Basis der Ideologie der Muslimbrüder gibt. Das hat aber nichts mit der Unterstützung terroristischer Aktionen und schon gar nichts mit der am 7. Oktober gezeigten Grausamkeit zu tun. Im Gegenteil: Katar dürfte sich als Freund der Hamas desavouiert sehen.
Könnte Katar die Hamas ganz fallen lassen?
Das ist durchaus vorstellbar. Hamas hat sich zu einer politischen Belastung entwickelt. Kurzfristig muss Doha aber erst einmal das Beste aus einer misslichen Situation machen und mit seinen Vermittlungsbemühungen die Hamas-Präsenz im eigenen Land nachträglich legitimieren. Wer sonst hätte denn einen tragfähigen Gesprächskontakt mit den relevanten Hamas-Entscheidungsträgern?
Wenn Israel die Wahl hat zwischen der Ausschaltung der Hamas und der Rettung der Geiseln, was wird es tun?
Wir sehen aktuell, dass die Abwägung zwischen diesen beiden so gegensätzlichen Zielen und ihren vielfältigen innen- wie außenpolitischen Implikationen situationsbezogen erfolgt. Die maximale Schwächung der Hamas steht derzeit im Vordergrund – in der Annahme, dass nur auf dieser Grundlage erneut Verhandlungen zur Geiselbefreiung mit Aussicht auf Erfolg aufgenommen werden können.
Sehen Sie die Gefahr, dass die Hamas in einer für sie ausweglosen Lage ihre Geiseln gezielt töten könnte?
Mit Drohungen dieser Art ist zu rechnen. Wenn es hart auf hart kommt, sind die Geiseln für Hamas eine Art »Lebensversicherung«. Beute und freies Geleit, also in diesem Fall die Freilassung palästinensischer Häftlinge und das Überleben der Hamas, sind nun einmal die beiden Kernforderungen eines jeden Geiselnehmers. Und die sollen mit der Bedrohung der Geiseln durchgesetzt werden.
Mit dem Nahostexperten und ehemaligen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes sprach Michael Thaidigsmann.