Auf der Grindelallee, wenige Schritte vor mir, geht ein hochgewachsener Mann mittleren Alters in Begleitung zweier Frauen, denen er plötzlich laut zuruft: »Die Juden, die Juden sind an allem schuld!« Was er allerdings schon in der nächsten Sekunde bereut, denn ich schieße ihm von hinten mit meinen Schultern im Hechtsprung gegen die Kniekehlen, was ihn zu Boden wirft. Dort bearbeite ich den Kerl, der doppelt so viel wiegt wie ich, mit Fäusten, Nägeln und Zähnen, bis er mit langen Sätzen das Weite sucht.
Es war ein elementares Ereignis für mich, die Geburtsstunde der Erkenntnis: Hitler, und was der Name symbolisiert, war wohl militärisch geschlagen, nicht aber auch schon geistig, oder besser ungeistig! Was da mit der Anklage »Die Juden, die Juden sind an allem schuld« aussah wie eine lokale Stimme, war tatsächlich das Symptom einer nationalen Befindlichkeit, von der die Nachkriegsgeschichte mit Ausläufern bis in unsere Gegenwart geprägt worden ist: Hitler war tot, sein Ungeist nicht.
Das Werk, das zu präsentieren und eigene Gedanken dazu beizusteuern ich heute die Ehre habe, ist von dieser Erkenntnis durchweht: Die Rosenburg – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme. Vor uns liegt eine bedeutende materielle und mentale Investition für Gegenwart und Zukunft. Mittelpunkt des Opus Magnum: die personellen und sachlichen Kontinuitäten des Bundesjustizministeriums der restaurativen 50er- und 60er-Jahre mit dem Nationalsozialismus. Es ist der Stoff meiner eigenen Biografie, der Geburtsfehler der Bundesrepublik Deutschland, die Ära der »Zweiten Schuld«, erstes von vier Codewörtern mit meinem Copyright.
zweite schuld Nun setzt jede zweite Schuld ja eine erste voraus, also die der Deutschen, oder doch ihrer Mehrheit, unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten. Aber das nicht bloß als rhetorische oder moralische Kategorie, sondern tief instituiert in die bundesdeutsche Gesellschaft durch das, was ich, zweites Codewort, den »Großen Frieden mit den Tätern« genannt habe. Ein Prozess, von dem die politische Kultur der Bundesrepublik bis in die Gegenwart geprägt ist.
Die Verdrängungsarbeit setzte sofort und überall ein, mit Artikulationen, wie sie jedem geläufig sind: »Die anderen haben auch Verbrechen begangen« – »Es waren ja gar nicht sechs Millionen getötete Juden« – »Hitler hat nicht nur Schlechtes vollbracht« – »Wir haben doch von nichts gewusst«. Und, oft genug noch im selben Atemzug: »Wir konnten doch nichts dagegen machen!« Da darf doch in aller Unschuld gefragt werden: Wogegen? Gegen das, was man nicht gewusst haben will? Eine unvollständige, aber entlarvende Aufzählung. Wenn die These von der deutschen Kollektivschuld, diesem größten aller politischen Reizworte, umstritten sein mag – die Schuldabwehr war kollektiv!
wiedereingliederung Dazu gehörte, drittes Codewort, ein Verlust an humaner Orientierung, wie ihn meiner Meinung nach in solchem Ausmaß kein anderes Volk je erlitten hat. Auch darin spiegelt sich die Singularität des Nationalsozialismus wider. Wir leben in einem Land, wo dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern, die wohlbemerkt hinter den Fronten umgebracht worden sind wie Insekten, das größte Wiedereingliederungswerk für Täter folgte, das es je gegeben hat.
Von Ausnahmen abgesehen, sind sie nicht nur straffrei davongekommen, sie konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen. Die verdienstvollen Aufarbeitungen über das Auswärtige Amt und das Bundeskriminalamt bestätigen auf bestürzende Weise, dass weite Teile der bundesdeutschen Funktionselite bis hinein in die 70er-Jahre identisch waren mit der in der Nazizeit. Es ist die Chronik eines geschlossen und erfolgreich arbeitenden Systems, einer irreversiblen Kalten Amnestie.
ns-prozesse Zunächst saßen Alliierte über Täter zu Gericht – die erste Welle der NS-Prozesse. Sie begann 1945/46 mit dem welthistorischen Paukenschlag des Internationalen Militärtribunals gegen 23 Hauptverbrecher in Nürnberg. Ihm folgten andere Verfahren, meist durchgeführt von Juristen, die am Nürnberger Hauptprozess teilgenommen hatten. Alle diese Verfahren der Amerikaner auf deutschem Boden waren in ihrer gründlichen Vorbereitung, straffen Durchführung und juristischen Souveränität ohne Beispiel, ein Ruhmesblatt in der Geschichte internationalen Rechts. Wahr ist aber auch, dass zwei Drittel der Sprüche kassiert und nicht vollstreckt wurden.
Ich habe über Jahrzehnte vielen dieser Prozesse beigewohnt, als Beobachter des Zentralrates der Juden in Deutschland, als Berichterstatter der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung und als Rundfunk- und Fernsehautor. Nach einiger Zeit fragte ich mich: »Wer sitzt hier eigentlich auf der Anklagebank? Welcher Tätergruppe wird überhaupt der Prozess gemacht?« An der Antwort hat sich nichts geändert, von damals bis zu den letzten Verfahren in unserer Zeit, wie dem gegen den Schrecken von Sobibor, John Demjanjuk.
Vor den Schranken der KZ-Verfahren vor bundesdeutschen Schwurgerichten standen die untersten Glieder in der Kette des industriellen Serien-, Massen- und Völkermords, die kleinen Angestellten des Staatsverbrechens, die niedrigsten Chargen des Verwaltungsmassakers. Vor Gericht zitiert wurden die »Tötungsarbeiter« selbst, nicht ihre Vorgesetzten, nicht jene, die den »Todesmühlen« das »Menschenmehl« zugeliefert hatten. Es war die Gruppe, die nicht mehr sagen konnte, sie hätte »von nichts gewusst«, weil sie mit ihren Händen, ihren Nagelstiefeln, Knüppeln und Pistolen gemordet hatte.
mordzentrale Aber da sie die Hauptmasse der Angeklagten bildeten, stellte sich immer dringlicher die Frage: Wo sind eigentlich die »Großen« , die Planer, die Köpfe der Mordzentrale Reichssicherheitshauptamt, die doch nicht alle, wie ihr Chef Heinrich Himmler, Selbstmord begangen hatten? Wo die Wehrwirtschaftsführer, die SS-Größen, die hohen und pflichtschuldigen Militärs, ohne die nichts, aber auch gar nichts gegangen wäre, und von denen nur wenige vor die Tribunale der britischen, amerikanischen und französischen Besatzungsmächte zitiert worden waren?
Nur wer neben seiner Beteiligung am allgemeinen Mordgeschehen einen eigenen, zusätzlichen Beitrag zur Vernichtung geleistet hatte, nur der hatte sich in den Augen der bundesdeutschen Schwurgerichte strafbar gemacht. Dem professionellen »Endlöser«, der effizient und ohne Gefühlsaufwand am Tötungsablauf beteiligt war, fehlte in den Augen dieser Juristen das Odium des Mörders.
Mit anderen Worten: Die Richter der KZ-Prozesse vor bundesdeutschen Schwurgerichten weigerten sich, die Beteiligung am Massen-, Serien- und Völkermord als das zu begreifen, was sie war: eine »Handlungskette«. Das dirigierende, das planerische, intellektuelle Element der Vernichtung, ihr ideologischer Motor, erscheint in der quantitativ gewiss imponierenden Leistung der KZ-Prozesse vor bundesdeutschen Schwurgerichten so gut wie gar nicht.
»kopf-ab-praxis« Keine NS-Spezies aber hat vom Großen Frieden mit den Tätern so gründlich profitiert wie die Juristen unterm Hakenkreuz. Richter des »Dritten Reiches« – Strafrichter, Standrichter, Sonderrichter, Wehrmachtsrichter, Volksrichter – haben 32.000 aktenkundige politische Todesurteile gefällt (die Dunkelziffer beträgt mehr als 50.000), wegen Bagatelldelikten wie Handtaschendiebstahl oder Mundraub, wegen Zweifelns am »Endsieg«, Fahnenflucht, Hörens ausländischer Sender und Widerstandshandlungen.
Von 1942 an haben NS-Richter durchschnittlich 720 Personen im Monat zum Tode verurteilt – eine beispiellose »Kopf-ab-Praxis«.
Die Nazijustiz hat Ausnahmerechte geschaffen, hat kollaboriert mit der Tötung von Geisteskranken, schuf die Voraussetzungen für die Entrechtung, Beraubung und Deportation der Juden sowie der Sinti und Roma in die Todeslager.
blutrichter Kurz: Die Justiz des Dritten Reiches war der Mantel über allen NS-Massen- und Ausrottungsverbrechen. Und doch ist keiner dieser Blutrichter und -ankläger je rechtskräftig von der bundesdeutschen Justiz verurteilt worden. Ihre Straffreiheit allerdings haben sie nicht einem siegreichen Hitlerdeutschland zu verdanken, sondern dem deutschen Rechtsstaat: Es ist, viertes Codewort, die Geschichte eines perfekten Mordes!
Die Geschichte der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz lehrt, dass die amtierenden Richter den NS-Richtern ihre Verteidigung abnehmen zu müssen glaubten. Es war das Schauspiel eines urtümlichen Gruppenschutzmechanismus, der den Mördern in der Robe weit entgegenkam.
Und doch ist das Bild, das ich bis hierher von der Bundesrepublik Deutschland entworfen habe, nur ihre eine Seite. Die andere ist eine Erfolgsgeschichte sondergleichen, ein wahrer Phönix aus der Asche, der große Magnet für die Vision der Wiedervereinigung, das bleibende Wunder einer deutschen Revolution ohne Blutvergießen und Nationalismus. Keine der posthumen Schwierigkeiten kann diesem historischen Mirakel auch nur das Geringste von seiner Leuchtkraft nehmen.
todfeind Und dennoch, wie lang fallen die Schatten der Vergangenheit: Da mordet sich quasi spazierengehender Weise eine jugendliche Nazi-Gang ein Dutzend Jahre quer durch Deutschland, ohne dass sie auffällig wird. Als die blutige Strecke und ihre Verzweigungen dann endlich entdeckt werden, fällt die Bundesrepublik aus allen Himmeln einer Blindheit bis an die Grenze der Komplizenschaft. Wie sollte ich beruhigt sein, wenn fast drei Menschenalter nach dem Untergang Hitlerdeutschlands der Todfeind von gestern auftaucht, in Gestalt einer neuen Generation, die nicht als Fremdenfeinde und Antisemiten geboren wurde, wohl aber im Laufe ihres jungen Lebens dazu geworden ist?
Ich war zehn, als die Schüler des Hamburger Johanneums im April 1933 am ersten Schultag in »Arier« und »Nichtarier« eingeteilt wurden, lautloser Gongschlag eines neuen Zeitalters. Zwölf, als mein gleichaltriger – und bis dahin bester – Freund Beinemann mich im Sommer 1935 anblaffte: »Mit dir spiele ich nicht mehr, du bist Jude!« 15, als am 10. November 1938, dem Tag nach der Reichspogromnacht, in der Innenstadt die Glassplitter der eingeschlagenen Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte unter meinen Sohlen knirschten.
verhör Ich war 16 beim Verhör im »Stadthaus«, Sitz der Gestapoleitstelle Hamburg, eingesperrt in einen hölzernen Käfig, in dem ich weder sitzen, liegen noch stehen konnte, und angeklagt »staatsfeindlicher Äußerungen« wegen, die – so die Verhörer – »das Miststück deiner jiddischen Mamme dir eingegeben hat«. 21, als mir, der »Rassenschande« bezichtigt, im August 1944 auf der Dependance dieser Behörde am Johannisbollwerk die Seele aus dem Leib geprügelt wurde. Und 22, als wir am 4. Mai 1945 aus einem rattenverseuchten Verlies kurz vor dem Hungertod befreit wurden.
Dieses Deutschland soll, es muss wissen, dass in ihm immer noch Menschen leben, die nicht vergessen können und nicht vergessen wollen. Es soll und muss wissen, dass immer noch Menschen da sind, die beim unfreiwilligen Einatmen der Auspuffschwaden im Stau des motorisierten Wohlstandsblechs an die Gaskammern von Auschwitz, die Gaswagen von Chelmno, die Krematorien von Treblinka und Belsec denken.
Von solchen Menschen spreche ich, weil ich einer von ihnen bin und mich tief alarmiert fühle. Da droht ein Bollwerk angetastet zu werden, hier in Deutschland, erst dem geteilten, dann dem wiedervereinigten: die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat! Sie sind mein Elixier, die Luft zum Atmen, die einzige Gesellschaftsform, in der ich mich sicher fühlen kann. Deshalb: Wer die Demokratie attackiert, sie beschädigen oder gar aufheben will, der kriegt es mit mir zu tun, dem gehe ich an die Kehle, der hat mich am Hals! Mit dieser Versicherung erneuere ich aus akutem Anlass den Kriegszustand, in dem ich mich 80 von meinen 90 Jahren mit dem Nationalsozialismus und seinen Anhängern befinde.
»Die Rosenburg« im Bonner Stadtteil Kessenich war von 1950 bis 1973 Amtssitz des Justizministers. Der gleichnamige Band, den der Historiker Manfred Görtemaker und der Jurist Christoph Safferling herausgegeben haben, beschäftigt sich mit der NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums und der Frage, welche Auswirkungen die personelle Kontinuität auf die gesetzgeberische Arbeit hatte. »In den 60er-Jahren sind alle Abteilungsleiter mit einer NS-Biografie versehen«, so Görtemaker.
Manfred Görtemaker/Christoph Safferling (Hg.): »Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme«. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2013, 373 S., 49,90 €