»Ist es wirklich so schlimm, wie die Medien berichten?« Freunde aus Israel und Deutschland wollen von mir wissen, was in Frankreich los ist: Friedhofsschändungen, Hakenkreuzschmierereien, und aus einer Gelbwesten-Demonstration heraus wurde Alain Finkielkraut, einer der prominentesten Intellektuellen Frankreichs, angegriffen.
Es ist weniger Angst, sondern eher Verwirrung, die unter den Juden in Frankreich herrscht. Man fragt sich, welchen Namen, welches Gesicht der neue Judenhass hat. Bis vor wenigen Jahren konnte man noch drei Sorten Antisemitismus unterscheiden: den des Front National, also von der inzwischen umbenannten rechtsradikalen Partei; den linksradikalen Antizionismus; den religiösen Judenhass, der aus islamistischen Kreisen kommt.
alain finkielkraut Aber mittlerweile ist alles durcheinander. Die Art und Weise, wie Alain Finkielkraut beschimpft wurde, macht das deutlich: »Frankreich gehört uns!«, »Geh zurück nach Tel Aviv!«, »Es lebe Palästina!«, »Du verdammter Rassist«, »Gott wird dich bestrafen!«. All diese zusammengenommen widersprüchlichen Ausdrücke schleuderte ein Salafist in gelber Weste dem jüdischen Philosophen entgegen.
Zur Verwirrung trägt bei, dass der Hauptfeind von gestern, der frühere Front National, sich inzwischen bemüht, als Freund der Juden zu erscheinen.
Zur Verwirrung trägt bei, dass der Hauptfeind von gestern, der frühere Front National, sich inzwischen bemüht, als Freund der Juden zu erscheinen. Als jüngst eine Demonstration gegen Antisemitismus stattfand, beteuerte Marine Le Pen, die auf der Demo nicht erwünscht war, im französisch-israelischen TV-Sender i24 News ihre Empathie. Es gibt immer mehr Juden, die ihr das abnehmen.
»Ist es wirklich so schlimm?« Nein. Nicht nur das Gesicht des Antisemitismus ändert sich. Auch das wichtigste Gesicht des französischen Judentums ist neu: Delphine Horvilleur, Rabbinerin und Schriftstellerin, ist die Stimme, die in den Medien am häufigsten ertönt, wenn die Kontinuität von altem und neuem Judenhass entziffert werden muss.
Der Autor ist Redakteur des jüdischen Onlinedienstes akadem.org in Paris.