Brit Mila

»Der gute alte Antisemitismus«

Jahrtausendealtes religiöses Ritual: die Beschneidung eines acht Tage alten jüdischen Kindes Foto: Flash 90

Warum machen sich Länder, die auf eine lange Geschichte des Antisemitismus und anderer Formen religiöser Intoleranz zurückblicken, anscheinend mehr Gedanken über das sogenannte Recht von Kindern, nicht beschnitten zu werden, als andere Länder mit einer besseren Geschichte, was Menschenrechte betrifft? Die gleiche Frage kann man auch Ländern wie Norwegen stellen, die sich ach so viele Sorgen um das Recht von Tieren machen, nicht nach jüdischem Ritual geschlachtet zu werden.

Natürlich sind diese Fragen von gänzlich rhetorischer Art, weil jeder denkende Mensch die Antwort darauf bereits kennt. Der Grund ist nicht, dass die Deutschen oder Norweger bessere Menschen sind und sich mehr aus Kindern und Tieren machen als etwa die Amerikaner. Der Grund ist vielmehr, dass sie sich weniger aus den Juden machen. Sie mögen sie einfach nicht besonders, und es ist ihnen egal, wenn Juden gezwungen werden, ihr Land zu verlassen, weil sie ihre Religion dort nicht länger ausüben können.

krokodilstränen Niemand sollte eine Nation, die Millionen jüdische Babys und Kinder ermordet hat, dafür loben, dass sie Krokodilstränen über das Schicksal eines armen kleinen Buben vergießt, der in der Ausübung einer jahrtausendealten Tradition eine Woche nach der Geburt beschnitten wird. Jeder gute Mensch muss Deutschland dafür verdammen, denn das, was den tatsächlichen Kern der Bemühungen, die Beschneidung zu verbieten, ausmacht, ist nichts anderes als der gute alte Antisemitismus.

Denn die Geschichte spielt eine Rolle bei der Einordnung der gegenwärtigen Debatte. In Deutschland (und Norwegen) reicht die Geschichte der Versuche, den Juden die Ausübung ihrer alten religiösen Rituale zu verbieten, in eine Zeit zurück, als offener Antisemitismus nicht nur akzeptabel, sondern ein gesellschaftliches Muss war. Heute sind neue Wörter an die Stelle der alten, diskreditierten Wörter getreten. Antizionismus statt Antisemitismus. Das Wohl des Kindes statt Verbot religiöser Rituale.

justiz Wie also sollen vernünftige Menschen auf diese unvernünftigen Bemühungen, die Ausübung des traditionellen Judentums zu erschweren, reagieren? Einige wollen vor Gericht gehen. Vielleicht. Doch das würde heißen, das eifernde Spiel derjenigen mitzuspielen, die das Verbot gerichtlich durchsetzen wollen. In Nazideutschland benutzten angesehene Juristen das Gesetz dafür, die primitivsten Formen des Rassismus zu rechtfertigen. Der Nationalsozialismus operierte mithilfe der Nürnberger Gesetze und anderer antisemitischer Verordnungen, die von deutschen Gerichten sämtlich für völlig rechtmäßig erklärt wurden. Versuche, das Gesetz gegen diese Erscheinungsformen des Rassismus einzusetzen, mussten scheitern, denn implizit legitimierten sie damit die legalistische Vorgehenswese der Nazis.

Diejenigen, die heute gegen die Verbote klagen wollen, müssen also verstehen, dass ihr Handeln das Risiko birgt, dass den Verbotsverfechtern eine gewisse Legitimation zugestanden wird. Andere wieder meinen, man könnte der vorgeblichen Wissenschaft, auf die sich die Verbote stützen, so begegnen, dass man über die wissenschaftliche Wahrheit aufklärt. Vielleicht.

Doch wieder gilt hier, dass man dann das Spiel derjenigen mitspielt, die argumentieren, die Anerkennung einer möglichen wissenschaftlichen Basis für diese antisemitischen Gesetzesvorschläge verleihe ihnen bereits Legitimität. Auch die »Wissenschaft« wurde dafür benutzt, die rassischen Studien der Nazis zu untermauern. Sollen deutsche Wissenschaftler ihre »Zwillingsforschung« jetzt an beschnittenen und unbeschnittenen Brüdern betreiben?

Warum will Deutschland nicht der American Academy für Kinderheilkunde folgen, die nach fünf Jahren Untersuchung der besten Studienergebnisse folgerte, das die »gesundheitlichen Vorteile« der Beschneidung – inklusive verminderter Übertragungsgefahr des HIV- oder Papillomavirus – »die Risiken überwiegt«.

Reaktionen Die beste Antwort ist, den Deutschen klarzumachen, wie schändlich diese neue Form von Antisemitismus ist, indem man aufzeigt, wie sehr dieser Antisemitismus dem Nationalsozialismus gleicht, den sie so verabscheuen. In Norwegen wird diese Herangehensweise nicht funktionieren, denn die Norweger haben ihre Geschichte vergessen und glauben immer noch, dass sie Opfer waren und nicht Kollaborateure. Die antisemitische Gesetzgebung Norwegens, die die koschere Schächtung von Tieren verbietet, stammt aus der unmittelbaren Vor-Nazizeit und ist seither in Kraft. Norwegen scheint weder Scham zu empfinden, noch fähig zu sein, sich beschämen zu lassen.

Dagegen sind viele Deutsche gewillt, sich an die Vergangenheit zu erinnern – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Sie müssen sich dieser Vergangenheit stellen und in den historischen Spiegel blicken, bevor sie wieder einen Weg beschreiten, der dazu führt, dass ihre jüdischen Mitbürger als Bürger zweiter Klasse oder schlimmer behandelt werden.

Schande über jene Deutschen, die die Beschneidung verbieten wollen. Schande über jene Deutschen, deren Gleichgültigkeit es nicht zulässt, ihre Stimme zu erheben gegen diese pesudowissenschaftlichen Eiferer, die lügen, wenn sie von sich behaupten, das Wohl der Kinder liege ihnen am Herzen. Lob den Deutschen, die gegen die Intoleranz ihrer Landsleute protestieren.

Andere Länder mit einer saubereren Geschichte müssen die Führung in der Forschung – echter wissenschaftlicher Forschung – und in der Diskussion um den Schutz der Rechte von Kindern und Tieren übernehmen. Die mörderische Vergangenheit Deutschlands disqualifiziert dieses Land für immer, bei den Versuchen, jüdische Rituale zu verbieten, Vorreiter zu sein.

Alan M. Dershowitz ist 1938 als Sohn orthodoxer Eltern in
Brooklyn, New York, geboren. Er besuchte die Yeshiva University High School und studierte am Brooklyn College und der Yale Law School. Heute ist er einer der bekanntesten amerikanischen Rechtsanwälte, politischer Aktivist und Publizist. Seit 1993 ist er Inhaber des Felix-Frankfurter-Lehrstuhls für Rechtswissenschaften, Harvard Law School. Dershowitz hat mehrere politische Bücher veröffentlicht.

www.alandershowitz.com

Meinung

Die UN, der Holocaust und die Palästinenser

Bei den Vereinten Nationen wird die Erinnerung an den Holocaust mit der »Palästina-Frage« verbunden. Das ist obszön, findet unser Autor

von Jacques Abramowicz  25.04.2025

80 Jahre nach Kriegsende

»Manche Schüler sind kaum noch für uns erreichbar«

Zeitzeugen sterben, der Antisemitismus nimmt zu: Der Geschichtsunterricht steht vor einer Zerreißprobe. Der Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrerinnen und -lehrer erklärt, warum Aufgeben jedoch keine Option ist

von Hannah Schmitz  25.04.2025

Washington D.C.

Trump beschimpft Harvard als »antisemitische, linksextreme Institution«

Der US-Präsident geht vehement gegen Universitäten vor, die er als linksliberal und woke betrachtet. Harvard kritisiert er dabei besonders heftig

 25.04.2025

Berlin/Jerusalem

Herzog kommt in die Bundesrepublik, Steinmeier besucht Israel

Der Doppelbesuch markiert das 60-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern

 25.04.2025

«Nie wieder»

Dachauer Gedenkstättenleiterin warnt vor ritualisierten Formeln

Die KZ-Gedenkstätte Dachau erinnert am 4. Mai mit einer großen Feier mit 1.800 Gästen an die Befreiung des ältesten Konzentrationslagers durch amerikanische Truppen am 29. April 1945

von Susanne Schröder  25.04.2025

Geschichte

Bundesarchiv-Chef warnt vor dem Zerfall historischer Akten

Hollmann forderte die künftige Bundesregierung auf, einen Erweiterungsbau zu finanzieren

 25.04.2025

Israel

Regierung kondoliert nach Tod des Papstes nun doch

Jerusalem löschte Berichten zufolge eine Beileidsbekundung nach dem Tod des Papstes. Nun gibt es eine neue

 25.04.2025

Berlin/Grünheide

Senatorin verteidigt ihre »Nazi«-Äußerung zu Tesla

Berlins Arbeitssenatorin spricht im Zusammenhang mit der Marke von »Nazi-Autos«. Daraufhin gibt es deutliche Kritik. Die SPD-Politikerin reagiert

 25.04.2025

Berlin

Shapira-Prozess gegen FU Berlin soll im Sommer starten  

Der jüdische Student wirft seiner Hochschule vor, zu wenig gegen den Judenhass auf dem Campus vorzugehen

 25.04.2025