Das Interview beendet Otto Uthgenannt mit »Schalom«. Der heute 77-Jährige aus dem ostfriesischen Wittmund verwendet den Gruß schon lange. Seit Jahren tritt er als Zeitzeuge vor Schülern auf, trägt dabei eine Kippa und erzählt, wie er als jüdisches Kind im KZ Buchenwald überleben konnte.
Doch seine Geschichte ist falsch. Uthgenannt wurde 1935 als Kind einer evangelischen Familie getauft, und weder seine Eltern noch seine drei Jahre jüngere Schwester wurden im KZ ermordet, wie er behauptet. Es gab keine Verfolgung der Familie. Die Schwester lebt weiter in Süddeutschland. Das hat die Nordwest-Zeitung in Oldenburg jetzt herausgefunden.
prüfung Vermutlich saß Uthgenannt Anfang der 90er-Jahre in den USA wegen Scheckfälschung im Gefängnis. Möglicherweise erfand er da seine Geschichte. In Deutschland trat er, ohne je Papiere vorzulegen, in eine jüdische Gemeinde ein. Als er von Hessen nach Oldenburg zog, legte er nur die Bestätigung einer früheren Gemeinde vor. Als passives Mitglied fiel er nicht weiter auf. Nun prüft die Jüdische Gemeinde Oldenburg seine Unterlagen.
Uthgenannt räumt kleine Fehler ein. »Es kann sein, dass nicht alles stimmt, ich war ja ein Kind«, sagt er dieser Zeitung. Er bleibt aber dabei, jüdisch zu sein. »Ich habe einen falschen Taufschein bekommen. Dafür kann ich doch nichts.«
Karsten Krogmann, Reporter der Nordwest-Zeitung, hat Uthgenannts Geschichte minuziös nachrecherchiert: Etwa seine Behauptung, er sei 1940 aus Italien deportiert worden, kann nicht stimmen; und die von ihm genannte Zahl, 1945 seien 202 Kinder in Buchenwald befreit worden, ist historisch falsch, es waren 904. Uthgenannt wischt alles weg. »Wir waren weniger Kinder in Buchenwald.«
Doch den wichtigsten Einwand versucht er gar nicht erst zu entkräften: der Name Uthgenannt ist nirgends registriert. »Nicht in den Datenbanken der Gedenkstätte Yad Vashem, nicht im Gedenkbuch des Bundesarchivs in Koblenz, nicht in den Aktenordnern von Buchenwald«, heißt es in Krogmanns Artikel. Uthgenannt ist empört. »Ich habe so viel getan, ich habe aufgeklärt. Das macht man mir jetzt zum Vorwurf?« Er fügt hinzu: »Wie will man heute noch Jugendlichen erklären, wie es damals war?«
Konvertiten Alles gut gemeint also? Der Historiker Julius Schoeps, Leiter des Moses Mendelsohn Zentrums der Universität Potsdam, sagt: »Solche Fälle gibt es häufiger.« Er erinnert daran, dass es eine Reihe Konvertiten gibt, die eine familiäre Verstrickung ins NS-System ablegen wollten, indem sie eine jüdische Identität annahmen.
Hans Stoffels ist Psychiater in Berlin und forscht zum Krankheitsbild der Pseudologie. Dass sich Menschen eine neue Biografie basteln und die Fälschung am Ende selbst glauben, sei nicht ungewöhnlich, sagt er der Jüdischen Allgemeinen. »Aber warum muss es ausgerechnet die extremste traumatisierende Erfahrung sein? Die eines KZ-Häftlings?«
Stoffels kann nur mutmaßen. 1995 hatte der Schweizer Schriftsteller Bruno Dössekker als »Binjamin Wilkomirski« seine KZ-Erfahrungen als Kind geschildert. Ein Lügengebilde, wie sich bald herausstellte. Stoffels hat sich mit dem Phänomen Wilkomirski auseinandergesetzt. Da sei einer »der Suggestivwirkung des Trauma-Opfer-Daseins« erlegen.
Viktimisierung Das Muster funktioniere so: »Im Opfer-Sein gewinne ich neue Freunde, die mich nicht infrage stellen.« Gerade die Monstrosität des NS-Terrors verbiete es beinah, kritische Nachfragen zu stellen, wenn jemand von seinem Leid berichtet. Der französische Philosoph Pascal Bruckner spricht von »Viktimisierung«: Wer sich zum Opfer mache, habe Anspruch auf moralische Wiedergutmachung.
In Ostfriesland reagieren viele entsetzt auf die Enthüllungen Krogmanns: die Lehrer, die Uthgenannt als »Zeitzeuge« einluden, die Jüdische Gemeinde, der Arbeitskreis »Gedenken« in Wittmund. Einer sagt: »Das ist wirklich kein Thema für Spielchen.« Karsten Krogmann, der das Thema recherchiert hat, berichtet, dass es leider auch rechtsextreme Reaktionen gäbe: als ob der Fall zeige, dass alle Berichte über die Schoa gelogen seien.
Uthgenannt gibt sich stur. Man habe ihm in seinem Leben schon so viel vorgeworfen, da käme es darauf nicht mehr an. »Da kann ich gut mit leben. Mir reicht es jetzt.« Mehr habe er nicht zu sagen. Nur noch »Schalom«.