Vergangenheit

Der Boxer, der Auschwitz überlebte

Dies ist die Geschichte von Hertzko Haft. Er ist 2007 im Alter von 82 Jahren gestorben. Der Jude aus dem polnischen Belchatow nahe Lodz wurde schon als Jugendlicher in ein KZ gesperrt. Er überlebte die Schoa, aber was er da erlebte, hat ihn für den Rest seines Lebens traumatisiert. Er war psychisch zerstört. Dabei hatte die Geschichte 1939 mit einer großen Liebe begonnen.

All die Hässlichkeit in Hertzkos Welt verschwand, wenn er die schöne Leah sah. Mit 14 Jahren war sie etwas größer als er, und ihr langes, dunkles, gelocktes Haar umrahmte anmutig ihr Gesicht. Sie sprach mit sanfter Stimme und hatte schlanke, muskulöse Arme. Sie ging auf Hertzko zu und umarmte ihn leidenschaftlich. (...) Sie fühlte sich in Hertzkos Armen geliebt und wusste, dass er sie beschützen würde.

Schauboxen Hertzko konnte Leah nicht beschützen. Er kam als Jugendlicher in ein Arbeitslager, kurze Zeit später nach Auschwitz. Einem SS-Offizier namens Schneider musste Hertzko als Leibeigener dienen. Der hatte die Idee, sich über sein »Eigentum« zu amüsieren, päppelte Hertzko auf, damit der kräftige junge Mann beim Schauboxen vor den Wachmannschaften eine gute Figur machte.

Der erste Gegner wurde in den Ring geführt. Hertzko war schockiert, als er ihn sah. Vor ihm stand ein halbtoter, bis auf die Knochen abgemagerter Mensch. (...) Er erkannte sofort, dass dieser Mann sich nicht freiwillig gemeldet hatte. Hertzko erinnerte sich an Schneiders Worte, dass der Kampf erst dann zu Ende sei, wenn einer der Boxer nicht weiterkämpfen könne. Jetzt verstand er, was das bedeutete.

Hertzko Haft überlebte Auschwitz. Als die Alliierten näher rückten, verlagerten die Nazis ihn zunächst in das KZ Neu-Dachs in Jaworzno. Später, im März 1945, kam er nach Flossenbürg. Dort erlebte er, wie Häftlinge andere Häftlinge erst ermordeten und dann aus Hunger, Verzweiflung und Todesangst aufaßen. Kurz bevor die Amerikaner das KZ befreiten, wurden Hertzko und die anderen auf einen Todesmarsch geschickt. Von dort konnte Hertzko flüchten.

Bordell Aus Angst, verraten zu werden, erschoss er auf der Flucht eine deutsche Frau. Schließlich geriet er in die Obhut der US-Army. GIs brachten ihn dazu, für sie ein Bordell einzurichten. Als die US-Militärverwaltung von dem illegalen Bordell hörte, musste er es schließen. Hertzko wanderte nach Amerika aus, wo er sich manchmal Harry, manchmal Herschel nannte.

Er wurde Profiboxer. Das Geschäft war in der Hand von Mafiabossen wie Frankie Carbo und Frank »Blinky« Palermo. Boxer, die sich nicht auf sie einließen, erlebten die Macht der Mafia. Am Anfang merkte Hertzko davon wenig. Erst nach zehn Kämpfen kassierte er seine erste Niederlage. 1949 bekam Hertzko einen Kampf gegen Rocky Marciano, den späteren Schwergewichtsweltmeister.

Harry wusste, dass Marciano keine Angst hatte, gegen ihn anzutreten. Es störte ihn nicht, der Underdog zu sein.

Kurz vor dem Kampf kamen drei Mafiosi. Sie forderten ihn auf, den Kampf zu verlieren, wenn er am Leben bleiben mochte.

Haft nahm das Handtuch von seinem Nacken und warf es auf den Boden. Er legte sich mit dem Rücken auf den Massagetisch und schloss die Augen. All die Erinnerungen seines langjährigen Kampfes ums Überleben schossen ihm durch den Kopf. All die toten Körper. All das Morden. Und jetzt das! Der Gedanke, dass sie ihm den Tod androhten, ließ ohnmächtige Wut in ihm aufsteigen. »Nicht hier in Amerika«, dachte er. »Nicht wegen eines Profiboxkampfes!« (...) Haft überprüfte die Schnürsenkel seiner Boxschuhe und richtete sich wieder auf. (...) Tief in Gedanken versunken hämmerte Haft seine Fäuste gegeneinander. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Sie waren nicht schön.

Mafia Hertzko »Harry« Haft verlor den Kampf. Weil Rocky Marciano stärker war oder weil sich Hertzko der Drohung beugte – das kann man heute nicht mehr beurteilen. Aus Hertzkos Sicht war die Mafia stärker als die Nazis, die Mafia hatte ihn gebrochen. Hertzko Haft ist später nie wieder in den Ring gestiegen. Er nahm eine Arbeit in einer Fabrik an und heiratete. Es kamen Kinder, doch Hertzko Haft konnte kein guter Ehemann und Vater werden.

1963 machte Familie Haft in Florida Urlaub. Sohn Alan, der später seine Geschichte aufschreiben sollte, war damals 13 Jahre alt. Vom Martyrium des Vaters wusste er nichts, aber der Vater forderte ihn auf, ihn zu begleiten. Hertzko hatte nämlich seine Jugendliebe wiedergefunden. Er hoffte auf Linderung seiner psychischen Qualen.

Leahs Kopf war bis auf einige kleine, unregelmäßig verstreute schwarze Haarbüschel vollständig kahl. Ihr Gesicht schien bis auf die Knochen abgemagert, und sie sah wie jemand aus, der am Verhungern ist. Ihr Ehemann führte sie zu uns, und wir erhoben uns. Leah und mein Vater standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber und weinten. Mein Vater war für mich der stärkste Mann der Welt. Ich hatte ihn vorher nie weinen sehen. Jetzt stand er einfach nur schluchzend da.

Leah, Hertzkos große Liebe aus Belchatow, hatte die Schoa überlebt und es auch nach Amerika geschafft. Aber jetzt hatte sie Krebs. Hertzko Haft hatte auch die Schoa überlebt. Er war in Auschwitz und Flossenbürg gewesen, er hatte Menschen erschlagen müssen, hatte erlebt, wie Menschen andere Menschen essen, hatte einen Menschen erschossen, hatte den Kampf gegen die Mafia verloren und ist nie mehr heimisch in dieser Welt geworden.

Leahs Ehemann Michael ging auf meinen Vater zu und umarmte ihn. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr sich Leah über Ihren Besuch gefreut hat. Es bedeutete ihr so viel. Sie hat mir letzte Nacht alles über Sie erzählt. Sie war so glücklich zu erfahren, dass Sie überlebt haben.«

Dies war ein Teil der Geschichte von Hertzko Haft.

Die kursiven Passagen sind dem Buch »Eines Tages werde ich alles erzählen« von Alan Scott Haft (Werkstatt, Göttingen 2009, 192 Seiten, 16,90 €) entnommen. Auf dieser Basis hat der renommierte deutsche Zeichner Reinhard Kleist (www.reinhard-kleist.de) einen Fortsetzungscomic in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefertigt, der demnächst auch als Buch erscheinen wird. Wir bedanken uns beim Verlag Die Werkstatt, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bei Reinhard Kleist und bei Alan Scott Haft für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.

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